Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 9

zm112, Nr. 9, 1.5.2022, (875) betrifft insbesondere die Aufrechterhaltung der oralen Gesundheit. BEDEUTUNG DER MUNDHÖHLE FÜR BEATMUNGSPATIENTEN Ohne kontinuierliche zahnärztliche Betreuung von Beginn der Beatmung an werden bei den Betroffenen die prävalenten Entzündungen im Mund- und Rachenraum nicht rechtzeitig erkannt und behandelt – mit teilweise weitreichenden Konsequenzen. Die nosokomiale Pneumonie ist die häufigste nosokomiale Infektion. Patienten mit invasiver Beatmung haben ein zusätzliches Risiko für den Erwerb einer Ventilator-assoziierten Pneumonie (VAP, englische Bezeichnung). Die Inzidenz für die Entwicklung einer VAP steigt mit jedem Beatmungstag (Inzidenz bis zum zehnten Beatmungstag circa 2 bis 3 Prozent pro Tag). Die zusätzliche Sterblichkeit durch den Erwerb einer VAP beträgt in klinischen Studien zwischen 4 und 13,5 Prozent [Bekaert et al., 2011; Melsen et al., 2013]. VAP ist definiert als Lungenentzündung, die sich bei einem Patienten entwickelt, der seit mindestens 48 Stunden eine mechanische Beatmung erhalten hat [American Thoracic Society, 2005] Die Pandemie COVID-19 geht mit einer hohen Zahl von Patienten einher, die am schweren akuten Atemwegssyndrom (SARS) leiden. Diese Patienten können längere Zeit auf der Intensivstation verbringen, wobei bis zu 80 Prozent der Patienten, die auf der Intensivstation aufgenommen werden, invasiv mechanisch beatmet werden müssen [Goyal et al., 2020; Grasselli et al., 2020]. COVID-19 macht Menschen anfälliger für die Entwicklung von VAP, was zum Teil, aber nicht ausschließlich auf die längere Dauer der Beatmung zurückzuführen ist. Die Veränderung des Lungenmikrobioms und die Ursachen für Sekundärinfektionen ähneln denen, die bei kritisch kranken, aus anderen Gründen beatmeten Patienten zu beobachten sind [Maes et al., 2021]. PATHOGENESE Vermutet wird, dass der Endotrachealtubus, der den Patienten mit dem notwendigen Sauerstoff versorgt, auch als Kanal für pathogene Bakterien dienen kann, die sich in der Mundhöhle vermehren und über den Tubus in die Lunge gelangen. Eine Mikroaspiration von Rachensekreten kann auch bei einer unvollständigen Abdichtung der Manschette des Endotrachealtubus bei einem beatmeten Patienten auftreten. Mehrere Studien haben gezeigt, dass die Mikroaspiration zur Entwicklung einer nosokomialen Lungenentzündung beiträgt [Mojon, 2002; Azoulay et al., 2006]. Als Langzeitfolgen nach einer nosokomialen Pneumonie können Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit, eine kognitive Dysfunktion und posttraumatische Belastungsstörungen oder ein chronisches Nierenversagen auftreten. Die VAP verlängert den Krankenhausaufenthalt um etwa sechs bis neun Tage und verursacht zusätzliche Kosten [Zhao et al., 2020]. Zahlreiche Studien wurden durchgeführt, um die besten pharmakologischen VAP-Präventionsstrategien zur Hemmung der Besiedlung mit Mikroorganismen zu ermitteln. Beispielsweise wurde die Verwendung von Antibiotika zur selektiven Dekontamination des Verdauungstrakts oder Mundraums (intraoral als topische Pasten oder systemisch) sowie der Einsatz von Probiotika erprobt. Während der übermäßige Einsatz von systemischen Antibiotika mit der Entwicklung multiresistenter Erreger sowie erhöhten Behandlungskosten in Verbindung gebracht werden kann, hat sich die Verwendung von Probiotika als Präventivmaßnahme in verschiedenen Studien als vielversprechend erwiesen [D‘Amico et al., 2009; Morrow et al., 2010; NEJM]. Probiotika könnten Patienten vor VAP schützen, indem sie das Mikrobiom modulieren und die Besiedlung mit invasiven Erregern verhindern. Eine aktuelle Metaanalyse zeigt, dass die Verabreichung von Probiotika eine vielversprechende Rolle bei der Senkung der VAP-Inzidenz, der Dauer der mechanischen Beatmung, der Dauer des Aufenthalts auf der Intensivstation und der Sterblichkeit im Krankenhaus spielt [Batra et al., 2020]. Eine andere Metaanalyse, die sich nur auf doppelblinde Studien beschränkt, kommt allerdings nicht zu diesem Ergebnis [Su et al., 2020]. Hauptproblem bei der Beurteilung der Effekte einer PräventionsmaßRISIKOFAKTOREN FÜR ASPIRATIONSPNEUMONIE I. Neurologische Dysphagie (Schluckstörung) Erkrankung des zentralen Nervensystems Neuromuskuläre Erkrankung Verändertes Bewusstsein II. Störung des gastroösophagealen Übergangs Gastroösophagealer Reflux, Gastrektomie (insbesondere totale Gastrektomie), Ersatz der nasogastrischen Sonde Tab. 1, Quelle: nach Noguchi et al., 2018 Zum Beispiel Demenz, zerebrovaskuläre Erkrankungen, Parkinson-Krankheit, Hirntumor, Epilepsie, Schädel-HirnTrauma Zum Beispiel amyotrophe Lateralsklerose, Muskeldystrophie Übermäßiger Alkoholkonsum, Einnahme von Beruhigungsmitteln DR. MED. DENT. (CHILE) GONZALO BAEZ Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin (DGAZ) gbaez.88@gmx.de Foto: privat ZAHNMEDIZIN | 65

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