Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 9

zm112, Nr. 9, 1.5.2022, (888) ALTERNATIV? KOMPLEMENTÄR? INTEGRATIV? – TEIL 2 Die andere Zahnmedizin: Klinische und gesellschaftliche Herausforderungen Hans Jörg Staehle Die Grabenkämpfe zwischen „Alternativmedizin“ und „Schulmedizin“ scheinen der Vergangenheit anzugehören. Die einstigen „Alternativen“ zeigen sich „komplementär“ oder „integrativ“ und die „Schulmedizin“ ist ohnehin im modernen Verständnis „ganzheitlich“. Eher still hat sich eine friedliche Koexistenz entwickelt, die sich modern, tolerant und kooperativ präsentiert. Das mutet erstaunlich an, denn von neu etikettierten Alternativtherapien gehen nach wie vor nicht unbedeutende Gefahren iatrogener Schädigungen aus. Es ist daher an der Zeit, den Wandel in Medizin und Gesellschaft zu analysieren und eine medizinpolitische Debatte anzuregen. Es wird heute vermehrt die Frage gestellt, warum Menschen auf fragwürdige Behandlungsmethoden schwören, ihnen zuweilen uneingeschränkt vertrauen und dadurch in einen alternativ-, komplementär- oder integrativmedizinischen Circulus vitiosus geraten. Wie lässt sich das erklären? Sind das alles „nur“ Placebos, wie gelegentlich zu hören ist? Ausgehend von Teil 1 dieses Beitrags in der zm 8/2022 (S. 68-73) wird im Folgenden auf diese Fragen eingegangen. NOCEBO-PLACEBO-MEDIZIN Um einer Antwort näherzukommen, ist ein Blick auf die Effekte medizinischer Behandlungen hilfreich. Diese beinhalten spezifische und unspezifische Elemente [Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer, 2010; Staehle 2013b; zm, 2022b]. \ Spezifische Elemente: Dazu zählen beispielsweise Operationen oder pharmakologisch definierte Medikamente mit all ihren Wirkungen und Nebenwirkungen. \ Unspezifische Elemente: Dazu zählen Placebo- und Noceboeffekte. Das sind „psychobiologische“ Phänomene, die durch den gesamten therapeutischen Kontext entstehen (Scheinbehandlungen, Behandlungserwartungen und Vorerfahrungen der Patienten, verbale und nonverbale Kommunikation der Behandler, Patient-Behandler-Interaktionen). Ein Nocebo – der Begriff wurde vor über 70 Jahren geprägt [Kennedy, 1961] – ist das psychosoziale Pendant zu einem Placebo. Während der Placeboeffekt (wörtlich: „ich werde gefallen“) mit einer positiven Erwartungshaltung verbunden ist, ist der weniger bekannte Noceboeffekt (wörtlich: „ich werde schaden“) mit einer Befürchtung assoziiert. Er umfasst unter anderem die Sorge, durch Medikamente, Eingriffe, „Störfelder“, „energetisch ungünstige Situationen“ oder auch angeborene psychosoziale Determinanten (zum Beispiel im Sinne eines homöopathischen Persönlichkeitsprofils) geschädigt zu sein oder noch Schaden zu nehmen. Negative iatrogene Zuschreibungen – zum Beispiel im Hinblick auf körperliche Gegebenheiten und Charaktermerkmale eines Patienten im Sinne bestimmter „Menschentypen“, wie in Erwünschte Wirkung Positiver Effekt Placebo Spezifische Ebene Intervention Unspezifische Ebene Unerwünschte Nebenwirkung Negativer Effekt Nocebo Abb. 1: Positive und negative Effekte nach spezifisch und unspezifisch wirksamen Interventionen Quelle: Staehle modizifiert nach [Kennedy, 1961; Staehle, 2009] 78 | ZAHNMEDIZIN

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