Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 13

notwendige Expertise, was die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen, die dem Patienten schaden können, deutlich erhöht. Das dritte Gebot – das Prinzip des Wohltuns und der Fürsorge – wird ebenfalls missachtet, da eine kieferorthopädische Behandlung keinen Notfall darstellt, sondern in der Regel ein elektiver Eingriff ist, der gut geplant und lege artis durchgeführt werden muss, um einen komplikationsfreien Ablauf und ein gutes Ergebnis zu erreichen. Über das vierte Gebot – das Prinzip der Gerechtigkeit – herrscht bislang noch Unklarheit: Wird die Kollegin K., die innerhalb des ZMVZ leichtere kieferorthopädische Fälle durchführt, überhaupt gefragt, ob sie sich die Behandlung komplexerer Fälle zutraut? Oder bestimmt der Leitende Zahnarzt W. einfach, dass sie diese Fälle auch übernehmen muss? So wie es sich im Kontext darstellt, ist eher Letzteres anzunehmen. Das Prinzip der Gerechtigkeit wird darüber hinaus auch deshalb missachtet, da hier eine unlautere „prätherapeutische“ Selektion betrieben wird. Die Patienten, die zu routinemäßigen Behandlungen ins ZMVZ kommen, können die Komplexität kieferorthopädischer Therapien nicht einschätzen. Sie werden in vielen Fällen froh sein, wenn sie für die KFO-Behandlung ihrer Kinder im ZMVZ bleiben können. So wird ihnen aus ethisch fragwürdigen ökonomischen Gründen die kompetentere Behandlung eines KFO-Spezialisten vorenthalten. Nach der Prinzipienethik ist also eine Überweisung komplexer kieferorthopädischer Fälle an einen niedergelassenen Fachzahnarzt für KFO eindeutig geboten. Wie sieht es jedoch auf der juristischen Ebene aus? Einerseits ist P. seinem zahnärztlichen Arbeitgeber gegenüber klar weisungsgebunden, was in der Regel im Arbeitsvertrag genau festgelegt ist. Andererseits gibt es nach der Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammer die Pflicht zur Sicherstellung der Qualität der zahnärztlichen Tätigkeit (Präambel: Artikel c) sowie die Pflicht, sich gemäß seiner angewandten Behandlungsverfahren angemessen fortzubilden (§ 5: Fortbildung). Wie ein Richter in einem Prozess urteilen würde, ob der Arbeitsvertrag oder die Musterberufsordnung als das höhere Rechtsgut zu bewerten ist, lässt sich schwer abschätzen. Ungeachtet der ethischen und der juristischen Ebene gibt es noch die psychologische Ebene, auf der der Zahnarzt P. hier seinen Weg finden muss. Ein verantwortungsvolles berufliches Selbstverständnis vorausgesetzt, sollten alle am Patienten tätigen Zahnärzte die Grenzen ihrer Kompetenzen erkennen können und keine Behandlungen durchführen, die sie nicht beherrschen. Falls jedoch der Arbeitgeber W. auf einer ZMVZ-internen Behandlung komplexer kieferorthopädischer Fälle durch die nicht ausreichend dafür fortgebildete Kollegin K. besteht und die Überweisungen zu Fachzahnärzten für Kieferorthopädie explizit verbietet, wird das Vertrauensverhältnis zwischen P. und W. gestört sein, wenn P. seinem Gewissen folgt. Er riskiert eine Abmahnung oder sogar eine Kündigung, und die Arbeitsatmosphäre wird stark belastet sein. In jedem Fall ist ein klärendes Gespräch zwischen den drei Kollegen P., W. und K. dringend empfehlenswert. Denn es wird auch im Interesse des Leitenden Zahnarztes W. und der Kollegin K. sein, Komplikationen und Misserfolge bei komplexen kieferorthopädischen Behandlungen zu vermeiden, auch im Hinblick auf die Reputation des ZMVZ. \ DIE PRINZIPIENETHIK Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei konkurrierenden, nicht miteinander zu vereinbarenden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instrumenten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzeptionen (wie die Tugendethik, die Pflichtenethik, der Konsequentialismus oder die FürsorgeEthik) sind jedoch stark theoretisch hinterlegt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben. Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzipienethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen als allgemein gültige ethisch-moralische Eckpunkte angesehen werden können, bewertet und gegeneinander abgewogen. Drei dieser Prinzipien – die Patientenautonomie, das Nichtschadensgebot (Non-Malefizienz) und das Wohltunsgebot (Benefizienz) – fokussieren ausschließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Gerechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personengruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht. Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbindliche Lösung, sondern vielfach können differierende Bewertungen und Handlungen resultieren. Die Prinzipienethik ermöglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Gesamtbeurteilungen und Entscheidungen. Deshalb werden bei klinisch-ethischen Falldiskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommentatoren zu Wort kommen. Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth zm112, Nr. 13, 1.7.2022, (1275) PRAXIS | 33

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