Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15-16

zm112, Nr. 15-16, 16.8.2022, (1525) entscheidungen, [sondern ebenfalls] handlungsleitendes Werturteil [mit einer] Reihe von normativen Implikationen“ [Neitzke/Oppermann, 2016:41], das heißt, die Indikationsstellung berührt professions- und sozialethische Fragen. Auch wenn die „Schönheitsphilosophie“ vieler Patienten womöglich neue, ökonomisch attraktive Betätigungsfelder eröffnet, liegt es letztlich im Ermessen der Zahnärzteschaft selbst, abzuwägen, ob sie den Weg einer zunehmenden „Vergewerblichung“ gehen möchte [Groß, 2014]. Möchte sie sich vor allem als medizinischer Dienstleister verstehen, der seinen aufgeklärten Patienten (Kunden) ein breites Angebot an mehr oder weniger zahnmedizinisch indizierten Behandlungsangeboten macht? Oder orientiert sie sich eher an einer ganzheitlichen, sprechenden Zahnmedizin, die sich als „Heilkunst“ [Maio, 2014] versteht und dabei einen weichen Paternalismus in Kauf nimmt, indem sie Patienten nicht jeden technisch möglichen Eingriff anbietet? Wie ernst ein Zahnarzt die soziale und psychologische Indikationsstellung nimmt, wird sich auch an seinem Umgang mit Patienten ablesen lassen, die für ästhetische Behandlungen nicht bezahlen können und gegebenenfalls nicht krankenversichert sind. Ein Dilemma ist hier die Versorgung der vulnerablen Gruppen der Asylbewerber [Groß et al., 2013]. So sind zahnmedizinische Untersuchungen und Behandlungen dieser Personengruppe in Deutschland durch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) abgedeckt, wenn sie im Sinne der §§ 4 und 6 notwendig sind. Der Leistungsanspruch ist jedoch so beschnitten, dass er unter Umständen erst im Schmerzfall greift. Mögliche zahnerhaltende Maßnahmen werden überwiegend nicht erstattet. Wie verhält sich ein Zahnarzt gegenüber einem solchen Patienten, wenn er einerseits dessen Autonomie fördern, ihm durch die Behandlung keinen Schaden zufügen, seine Würde achten und seine Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe steigern will, gleichzeitig aber eine Praxis als wirtschaftliches Unternehmen führen muss? Wie kann in solchen Situationen verhindert werden, dass Mundgesundheit zu einem unerschwinglichen Gut wird [KZBV/BZÄK, 2022]? WENN DER ZAHNARZT ZUM DIENSTLEISTER WIRD Die wunscherfüllende Zahnmedizin stellt heute einen wichtigen Teil der zahnärztlichen Praxis dar. Insbesondere ästhetische Maßnahmen werden von vielen Patienten nachgefragt und von vielen Zahnärzten gerne angeboten. In jedem Fall sind hier eine Nutzen-Risiko-Abwägung und umfassende Aufklärung nötig [Gersch, 2011]. Im individuellen Gespräch sollte geklärt werden, ob eine ästhetische Behandlung dem Patienten tatsächlich wohltut, oder ob andere Optionen ebenso geeignet sind, seinen sozialen und psychologischen Leidensdruck zu verringern. Auch für die Zahnarzt-PatientenBeziehung und den Zahnarzt selbst birgt eine Ökonomisierung Risiken: Wo er zum Dienstleister wird, können „moral distress“, ein Vertrauensverlust der Patienten und eine sozialethische Schieflage zwischen wunscherfüllender Spitzenzahnmedizin für einige und Unterversorgung für andere drohen. In professionsethischen Debatten muss die Zahnärzteschaft einen Umgang mit diesen Fragestellungen erarbeiten [Stiefelhagen, 2019, Krischel/Nebe, 2022a]. \ Abb. 4: Nicht immer ist die Grenze zwischen zahnmedizinisch indizierten Behandlungen und ästhetischer Selbstoptimierunge eindeutig. Foto: яна винникова – stock.adobe.com GESELLSCHAFT | 75

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