Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 21

zm112, Nr. 21, 1.11.2022, (2068) teiligten Fachgesellschaften von der AWMF online publiziert. DEFINITION UND ÄTIOLOGIE Lange Zeit bestand in der nationalen und in der internationalen Literatur Uneinigkeit bezüglich diverser konkurrierender Definitionen der Kiefergelenkluxation, sodass zum Teil für dieselben Entitäten unterschiedliche Begriffe verwendet wurden. Dieses Dilemma führte unter anderem zu einer spürbaren terminologischen Verunsicherung und zu einem Hindernis für eine einheitliche Auswertung von Studiendaten. Nun konnte im Rahmen des Leitlinien-Updates erstmalig eine einheitliche Nomenklatur in Übereinstimmung mit der ESTMJS-Konsensuskonferenz konsolidiert werden (Tabelle 4). Die Kondylusluxation des nicht frakturierten Unterkiefers ist eine primär (neuro-)muskulär bedingte Luxation des Kondylus vor das Tuberculum articulare. Bei der fixierten Luxation wird die Rückkehr des Kondylus durch Muskelanspannung – zum Teil fälschlich als „Trismus“ bezeichnet – verhindert. In der Folge bestehen eine Kiefersperre und eine konsekutive Blockade des Kieferschlusses, sodass die Reposition (zahn-)ärztliche Hilfe erfordert. Bei der nicht fixierten Luxation lässt sich der Kondylus dagegen spontan von den Betroffenen selbst reponieren (sogenannte „Kondylussubluxation“). Die nicht fixierte Luxation tritt im Rahmen von kondylärer Hypermobilität auf. Eine akute Luxation bezeichnet eine kürzlich aufgetretene Luxation. Sobald die Luxation länger als vier Wochen besteht, gilt sie als chronisch beziehungsweise persistierend. Infolge einer chronischen/persistierenden Luxation kann es zur Entwicklung der lang bestehenden Luxation kommen: Dabei ist der Kondylus anhaltend durch das Tuberculum blockiert, und es kommt intra- und periartikulär zu adaptiven beziehungsweise degenerativen Veränderungen. Das Vorliegen dieser Veränderungen stellt das Definitionskriterium für die lang bestehende Luxation in Abgrenzung zur chronischen Luxation dar. Tritt die Luxation als einzelnes Ereignis auf, liegt eine akzidentelle beziehungsweise einmalige Luxation vor. Treten hingegen multiple Luxationen im zeitlichen Verlauf auf, liegt eine rezidivierende Luxation vor. Ist der Mechanismus der Kiefergelenkluxation erst einmal gebahnt, folgt in der Regel das Stadium der habituellen Luxation, bei der es bereits im Rahmen von physiologischen Bewegungen zu Luxationen des Kondylus kommt. DIAGNOSTIK Klinisch präsentiert sich die Kiefergelenkluxation durch eine Okklusionsstörung oder durch die Unfähigkeit des Kieferschlusses bei leerer Gelenkpfanne in Kombination mit Schmerzen im Bereich des Kiefergelenks [Prechel et al., 2018]. Handelt es sich um eine chronische oder lang bestehende Luxation, können sich zusätzlich eine muskuläre Dysfunktion und eine Malnutrition entwickeln [Yeşiloğlu et al., 2015]. Nach einem Trauma, unter Sedierung oder bei dementen Patienten kann die Symptomatik abgeschwächt sein oder leichter übersehen werden [Okamoto et al., 2020]. Bei einer erstmalig auftretenden Unterkieferluxation ohne aktuelles Trauma im Gesichtsbereich kann die Diagnose anhand der Anamnese und der körperlichen Untersuchung (Inspektion, Palpation) erfolgen, sofern die Symptomatik hinreichend für eine Kiefergelenkluxation spricht (Empfehlungsgrad 0, starker Konsens, LoE 4). Wenn die Symptomatik andere Differenzialdiagnosen zulässt, zum Ausschluss von Frakturen im Gesichtsbereich und zur weiteren Therapieplanung sollten bildgebende Untersuchungen Anwendung finden (Empfehlungsgrad B, starker Konsens, LoE 2+). Zu den weiterführenden Untersuchungen zählen die MRT, eine dreidimensionale Bildgebung (CT/DVT) sowie die Sonografie. Bei speziellen Fragestellungen kann der Einsatz der instrumentellen Funktionsdiagnostik und der Arthroskopie indiziert sein (Empfehlungsgrad 0, starker Konsens, LoE 5). KONSERVATIVE THERAPIE Bei jeder nicht traumatisch bedingten Kiefergelenkluxation sollte zunächst eine manuelle Reposition versucht werden (Empfehlungsgrad B, starker Konsens, LoE 4). Je früher die manuelle Reposition erfolgt, desto höher sind die Aussichten auf eine TAXONOMIE DER KONDYLÄREN LUXATIONEN GEMÄß ESTMJS-KONSENSUSKONFERENZ 1. Reponierbarkeit (spontan vs. externe Intervention) fixiert nicht-fixiert 2. Auftreten im zeitlichen Verlauf einmalig/akzidentell rezidivierend habituell 3. Dauer der Luxation akut chronisch/persistierend lang bestehend Tab. 4, Quelle: ESTMJS nicht selbst-reponierbar ((zahn-)ärztliche Intervention erforderlich) spontan selbst reponierbar einzelnes Ereignis multiple Luxationen im zeitlichen Verlauf Luxationen bei physiologischen Bewegungen kürzlich aufgetretene Luxation (einmaliges Ereignis) Luxation > 4 Wochen mit adaptiven/degenerativen Veränderungen intra-und periartikulär infolge einer Luxation 46 | TITEL

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