Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 22

zm112, Nr. 22, 16.11.2022, (2185) OBERLANDESGERICHT HAMM Auch einvernehmlicher Sex mit Patienten ist strafbar Auch wenn der Patient mit den sexuellen Handlungen ausdrücklich einverstanden ist, missbraucht der Behandler das besondere Arzt-Patienten-Verhältnis. Eine Ausnahme gebe es nur, wenn sich Arzt und Patient auf Augenhöhe begegnen, befanden Richter vom Oberlandesgericht (OLG) Hamm. Es verstehe sich in den meisten Fällen von selbst, „dass ein Arzt, der sexuelle Handlungen an einer Patientin oder einem Patienten im Rahmen eines Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnisses vornimmt, dieses besondere Verhältnis missbraucht“, stellte das OLG Hamm klar. Eine Ausnahme liege nur vor, wenn der Mediziner nicht „eine bestehende Vertrauensstellung gegenüber dem Opfer ausgenutzt hat“. Dies sei jedoch nur der Fall, wenn sich Arzt und Patient zuvor „auf Augenhöhe“ begegnet sind. In dem Fall hatte das Amtsgericht Essen einen Mediziner im August 2020 wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt. Nun wurde das Urteil vor dem OLG Hamm neu verhandelt. WAS IST EINVERNEHMLICH UND ERLAUBT? Der Tatvorwurf: „Die Patientin befand sich wegen eines Frozen-ShoulderSyndroms sowie diffuser Schmerzen im linken Oberschenkel in der Behandlung des Angeklagten, welcher als Orthopäde und Osteopath eine Privatpraxis betreibt“, schreibt das Gericht. Die ganzheitlich ausgerichtete Behandlung fand innerhalb eines Jahres an über 30 Terminen statt und umfasste in etwa zur Hälfte der Einheiten auch ein Coaching der Patientin, wobei auch ihre Eheprobleme thematisiert wurden. „Nach Besserung der Beschwerden brachte die Patientin dem Angeklagtem immer mehr Zuneigung entgegen und fühlte sich von diesem verstanden und aufgehoben“, so das Gericht. „Es entstand zwischen dem Angeklagten und der Frau eine sexuelle Anziehung. Die Patientin kleidete sich zu den Behandlungsterminen in der Regel mit einem einteiligen Sommerkleid, so dass sie dieses für die Behandlung komplett ausziehen musste.“ Mehrfach sei es daraufhin zu sexuellen Handlungen gekommen. Sowohl die Patientin als auch die Staatsanwaltschaft warfen dem Arzt sexuellen Missbrauch unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses vor. Das Amtsgericht Essen verurteilte den Mediziner in vier Fällen, sprach ihn in einem Revisionsverfahren jedoch frei, da der Sex „einvernehmlich“ erfolgt sei. Die sexuellen Handlungen seien zudem von der Patientin ausgegangen, diese habe „selbstbestimmt eine weitergehende Vertiefung der Beziehung gesucht“. Sie sei auch nicht von der Autorität des Orthopäden eingeschüchtert oder eingenommen gewesen. Das OLG Hamm sah das anders und verwies das Verfahren zur erneuten Prüfung an die Vorinstanz zurück. Ein Einverständnis der Patientin zu sexuellen Handlungen reiche allein reicht nicht aus, um von keinem Missbrauch des Behandlungsverhältnisses durch den Arzt auszugehen. Vielmehr müssten weitere Umstände hinzukommen, die zeigen, dass eine aufgrund des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses regelmäßig gegebene Vertrauensbeziehung entweder tatsächlich nicht bestand oder für die sexuellen Handlungen ohne Bedeutung war, urteilte das Gericht. Solche besonderen Umstände könnten etwa vorliegen bei einer „von dem Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnis unabhängigen Liebesbeziehung“. WAS HEIßT „TREFFEN AUF AUGENHÖHE“? „So wäre insbesondere näher darzulegen, wie sich die beiderseitige sexuelle Anziehung – auch schon vor der ersten Tat – zwischen den Beteiligten manifestiert hat“, urteilten die Richter, „etwa durch Flirten“. Weiter sei darzulegen, wie oft und in welchem Rahmen es zu Zusammenkünften gekommen ist und wie eine Kommunikation – etwa per Textnachrichten – außerhalb der Behandlung stattgefunden habe. Ohne Kenntnis dieser Umstände lasse sich abschließend nicht beurteilen, ob der angeklagte Mediziner die aus dem Behandlungsverhältnis resultierende Autoritäts- und Vertrauensstellung ausnutzte oder ob der Entschluss der Patientin, mit ihm sexuell zu verkehren, „auf Augenhöhe“ erfolgte. nb Oberlandesgericht Hamm Az.: 5 RVs 60/22 Urteil vom 27. September 2022 Foto: Rostislav Sedlacek – adobe.stock.com URTEILE | 51

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