Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 22

konzept keine einschneidenden Veränderungen durchführen sollte. Zu groß scheint das Risiko, Stammpatienten zu verlieren. Dieses ist insbesondere in ländlichen Regionen durch das meist vor allem auf Mundpropaganda basierende Empfehlungssystem nicht zu unterschätzen. Daher ist es ratsam, Veränderungen mit Fingerspitzengefühl umzusetzen, um Innovationen zu ermöglichen, aber Patienten, die sich der Praxis aufgrund der bewährten Behandlungsmethoden verbunden fühlen, nicht vor den Kopf zu stoßen. Während die Elterngeneration einen offensichtlich rein kurativ orientierten Ansatz im Zentrum der Praxisphilosophie sieht, will der Sohn die in der Großstadt erfahrene Marktorientierung umsetzen, die auch wirtschaftlich verlockend zu sein scheint. Allerdings ist dabei der Grat zur wunscherfüllenden Zahnmedizin oft schmal und erfordert ebenfalls das bereits erwähnte Fingerspitzengefühl. Die bereits vorgenommenen Änderungen scheinen, so wie es die dem Seniorchef gegenüber getätigten Äußerungen belegen („neue Besen kehren gut“), bei den Patienten überwiegend positiv aufgenommen zu werden. Besonders wichtig ist bei der Einführung neuer Konzepte oder auch der Umstrukturierung einer Praxis eine gute Abstimmung zwischen aktueller und zukünftiger Praxisführung. Hier bietet das Eltern-Kind- und in diesem Fall speziell das Vater-Sohn-Verhältnis durchaus Chancen – aber auch Risiken. Ein Risiko ist – und die Fallskizze spricht für dieses Phänomen –, dass emotionale Aspekte schwerer wiegen als es bei einem „neutralen Dritten“ der Fall wäre. Der Vater möchte, seiner gewohnten Rolle entsprechend, den Sohn von seinem reichen Erfahrungsschatz profitieren lassen. Der hingegen hält seine einerseits im kürzlich abgeschlossenen Studium, aber auch seine in der Stadt erworbenen Kenntnisse für den Maßstab für eine zeitgemäße Zahnmedizin. Das führt auf der einen Seite zu gekränktem Stolz und auf der anderen Seite dazu, dass dem unvermeidlichen Konflikt, Änderungswünsche mit dem Vater diskutieren zu müssen, aus dem Weg gegangen wird und stattdessen Alleingänge stattfinden. In einer solchen Situation ist der familiäre Kontext ein Hindernis, da Konflikte aus dem beruflichen in den privaten Bereich getragen werden. Dabei gäbe es auch die Chance, durch gute Kommunikation der Beteiligten und verstärkt durch die Familienbande ein gemeinsam abgestimmtes Konzept für eventuell sinnvolle Umstrukturierungen und -orientierungen zu entwickeln, bei dem sowohl Innovationen als auch möglicherweise berechtigte Bedenken in Bezug auf „unseriöse“ Behandlungsmethoden gleichermaßen Berücksichtigung finden. Schließlich soll der Sohn ja auf längere Sicht die Praxis auch alleine führen und sich mit dem Konzept identifizieren können. Betrachten wir die Situation gemäß der medizinethischen Prinzipien Patientenautonomie, Benefizienz, Non-Malefizienz und Gerechtigkeit: Patientenautonomie Die dargestellte Konstellation bietet zumindest für die infrage stehenden Behandlungsmethoden die Möglichkeit für Patienten, sich durch die Wahl des behandelnden Arztes für das eine oder andere Konzept zu entscheiden. Wichtig ist dabei, wie bei jeder Therapie, gerade aber auch für kosmetische Dienstleistungen, eine umfassende Risikoaufklärung. Bezüglich der Umstellungen in Praxiskonzept und -führung besteht diese Wahlmöglichkeit auf lange Sicht nicht. Hier werden sich Patienten, die bis zuletzt die Behandlung durch die Elterngeneration bevorzugt und die Konzepte des Juniors abgelehnt haben, entweder durch den Sohn nach „traditioneller Methode“ (sofern er dies anbietet) behandeln und einem Praxiswechsel entscheiden müssen. Benefizienz Nicht jede moderne Behandlungsmethode ist automatisch besser als die bewährte. Gelegentlich werden neue Trends auch ohne valide Langzeitdaten auf Grundlage weniger Fallpräsentationen propagiert und nach wenigen Jahren stillschweigend in der Schublade der zahnmedizinischen Irrwege verstaut, da sich ihr Nutzen als fragwürdig herausstellt oder sich schädliche Folgen als zu groß erweisen. Andererseits gibt es auch viele Innovationen in der Zahnmedizin, die das Potenzial für massive Verbesserungen in der Patientenversorgung haben. Hier gilt es, idealerweise im offenen Gespräch zwischen den Generationen die Chancen und Risiken abzuwägen und gemeinsam über die Einführung dieser Therapieoptionen zu entscheiden. Non-Malefizienz Auch hier ergeben sich Argumente für die eine und die andere Seite. Sofern aktuelle Behandlungsmethoden weniger invasiv sind oder präventiv ansetzen und so den Behandlungsumfang reduzieren, wäre ein entsprechender Umstieg im Sinne des Nicht-Schadens-Gebots. Invasive Eingriffe aus rein kosmetischen Gründen bedürfen einer sorgfältigen Prüfung des vorhandenen Leidensdrucks und des Umfangs des gesetzten Eingriffs in den gesunden Körper. In Anbetracht des bisherigen Praxiskonzepts und zum Schutze der Patienten sollten diese keinesfalls proaktiv angepriesen werden. Gerechtigkeit Die beiden Aspekte dieses Prinzips sind im aktuellen Fall die vom Vater eingeforderte Kollegialität und die vom Sohn bisher aus Sicht des Vaters rücksichtslos praktizierte Therapiefreiheit. Der Vater würde sich wünschen, dass der Sohn im Hinblick auf die lange Praxistradition das etablierte Konzept fortführt und auf diesem Wege ihm und den Patienten die Kontinuität bewahrt. Der Sohn und zukünftige Praxisinhaber möchte das Erlernte und Innovative, das er in der Stadtpraxis zu schätzen wusste, auch in der eigenen Praxis umgesetzt sehen und kann die Vorbehalte zm112, Nr. 22, 16.11.2022, (2188) 54 | PRAXIS

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