Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 1-2

zm113 Nr. 01-02, 16.01.2023, (66) 66 | GESELLSCHAFT dass Gingivitis und Parodontitis in einer „unglaubwürdig geringen Häufigkeit“ diagnostiziert werden. Laut Wissmanns Auswertung wurde nur bei 10,6 bis 21,8 Prozent der Inhaftierten eine Gingivitis und bei 2,5 bis 4,5 Prozent eine Parodontitis diagnostiziert. Zur Situation in Deutschlands Nachbarländern gibt es wenig Informationen. Auf eine Anfrage der zm an die zuständigen Zahnärztekammern antwortete bis zum Redaktionsschluss nur die niederländische Zahnärzteorganisation KNMT. Die KNMT berichtet, dass es in der Patientengruppe der Inhaftierten einen extremen Behandlungsbedarf gibt. Gleichzeitig hätten die Betroffenen häufig mit Ängsten, psychischen Problemen und Suchtfolgen zu kämpfen. In den Niederlanden stellen aktuell 20 bis 25 Behandler sicher, dass Inhaftierte eine zahnmedizinische Versorgung bekommen, die dem gesetzlichen Standard entspricht, heißt es weiter. Ähnliches gilt laut British Dental Association (BDA) für Großbritannien. Dort haben Gefangene Anspruch auf eine routinemäßige und dringende zahnärztliche Versorgung, wie sie der Allgemeinbevölkerung vonseiten des Nationalen Gesundheitsdienstes NHS auch zusteht. Doch wie bei der Allgemeinbevölkerung bedeutet der reine Versorgungsanspruch in Großbritannien nicht, dass auch eine zeitnahe Behandlung möglich ist. Es gebe „Anekdoten“ von langen Wartelisten, so die BDA, zu der Dimension des Versorgungsengpasses könne man aber keine genauen Angaben machen. Dazu fehlten schlicht die nötigen Daten. Man befürchte zudem, dass „das aktuelle Budget den Bedarf nicht deckt“, schreibt die BDA. „Seit Langem mache man auf die Auswirkungen einer schlecht finanzierten NHS-Zahnheilkunde aufmerksam.“ Die BDA schätzt, dass es zusätzliche 880 Millionen Pfund (rund 1 Milliarde Euro) kosten würde, um die zahnmedizinische Versorgung in Großbritannien wieder auf das Niveau von 2010 zu bringen. „Die Zahnmedizin steht auf der Prioritätenliste der Politiker zu weit unten, und dies wird sich immer unverhältnismäßig stark auf schutzbedürftige Gruppen wie Gefangene auswirken.“ mg INTERVIEW MIT GEFÄNGNISZAHNARZT DR. CHRISTIAN OLES „Sexualstraftäter, Betrüger oder Mörder – in all den Jahren war alles dabei!“ Seit 27 Jahren arbeitet der niedergelassene Zahnarzt Dr. Christian Oles auch in drei ostwestfälischen Justizvollzugsanstalten (JVA). Im Gespräch beschreibt er, wie er dazu kam, im Knast zu behandeln, mit welchen Problemen die Inhaftierten zu ihm kommen und wie es ist, einen Mörder auf dem Stuhl zu haben. Herr Dr. Oles, wie sieht Ihrer Erfahrung nach der zahnmedizinische Bedarf von Gefängnisinsassen aus? Dr. Christian Oles: Wir haben relativ viele drogenabhängige Patienten. Die haben natürlich in der Freiheit wenig für die Zahnpflege gemacht. Deshalb ist es auch sehr, sehr viel Bruch, den wir da regelmäßig zu sehen bekommen. Was bedeutet das konkret? Nun, viele Zähne sind bis zum Gingiva-Niveau völlig zerstört und meistens nicht mehr zu erhalten. Gängig ist, dass die Patienten erst in der JVA beim Drogenentzug ihre Schmerzen bemerken und dann zu uns kommen. Wir können dann häufig nur noch extrahieren und anschließend den Zahnersatz planen. Und da bekommen die Inhaftierten eine Versorgung wie die gesetzlich Versicherten draußen auch. Die Grundversorgung ist auf jeden Fall gegeben. Wie sieht es denn bei den Extraktionen oder invasiven Behandlungen mit der Compliance aus? Das kommt ganz darauf an. Es gibt sowohl Patienten, die einsichtig sind, wie auch solche, die auf einen Zahnerhalt pochen. Aber da gibt es oft keine Chance. Manche verweigern dann die Behandlung, kommen später aber wieder. Das ist schon eine spezielle Klientel in der JVA – und mit der Arbeit in der Praxis natürlich überhaupt nicht zu vergleichen. Stichwort Behandlungsverweigerung: In einer Doktorarbeit zum Versorgungsbedarf von Inhaftierten in Deutschland heißt es, Gingivitis oder Parodontitis würden in JVAs quasi nicht behandelt. Auch mit 65 Jahren denkt Dr. Christian Oles noch nicht daran, seine Praxis oder die Arbeit in drei ostwestfälischen JVAs aufzugeben. Foto: privat

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