Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 10

ZAHNMEDIZIN | 67 Zwei Tage später stellte sich die Patientin zur weitergehenden Diagnostik in der Abteilung für Neurologie vor. Inzwischen hatte sich das Taubheitsgefühl auf das Kinn und die Wange rechts ausgebreitet. Zusätzlich konnte in der klinischen Untersuchung eine Pallhypästhesie (herabgesetztes Vibrations-Empfinden) radial und malleolär rechts nachgewiesen werden. Laborchemisch ergab sich erneut kein wegweisender Befund. Es wurde eine kraniale Magnetresonanztomografie durchgeführt, die tatsächlich den Nachweis mehrerer T2-hyperintenser (FLAIRSequenz) Läsionen im intermediären Marklager beidseits frontal, periventrikulär links frontal, rechts paramedian pontin sowie am Übergang Medulla oblongata/spinalis erbringen konnte. In der Liquorpunktion ließen sich oligoklonale Banden (Typ 2) nachweisen. Die visuell evozierten Potenziale waren beidseits unauffällig. Die Tibialis sensibel evozierten Potenziale (SEP) und die Trigeminus SEP waren beidseits verzögert. In Zusammenschau aller Befunde ergab sich der dringende Verdacht auf eine entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, so dass eine intravenöse Therapie mit Methylprednisolon gestartet wurde. Im weiteren Verlauf bestätigte sich die Diagnose einer Multiplen Sklerose. Unter der weiteren Therapie zeigten sich die vormals beschriebenen Symptome vollständig rückläufig. Diskussion Die Multiple Sklerose ist eine entzündliche Autoimmunerkrankung, bei der es zur Demyelinisierung von Nervenzellen in multiplen Arealen und damit einhergehend zur Zerstörung von Axonen mitsamt Funktionsverlust kommt. Je nach Lokalisation können unterschiedliche neurologische Symptome resultieren. Die Erkrankung manifestiert sich zumeist um das 30. Lebensjahr, wobei es auch zu Häufungen im Kindesalter und nach dem 55. Lebensjahr kommt. Die Inzidenz beträgt circa 18 Neuerkrankungen auf 100.000 Einwohner [Holstiege et al., 2017]. Zu den häufigsten Erstsymptomen zählen Sehstörungen infolge einer entzündlichen Affektion des N. opticus und Sensibilitätsstörungen. Die Ursache und Pathophysiologie der Erkrankung ist trotz intensiver Forschung nicht vollständig geklärt. Eine wesentliche Rolle in der chronisch-entzündlichen Schädigung des zentralen Nervensystems spielen autoreaktive, periphere T-Lymphozyten. Möglicherweise werden diese durch Kontakt mit einem unbekannten Antigen in der Peripherie aktiviert. Wenige Zellen gelangen in der weiteren Folge über die Blut-HirnSchranke ins Gehirn und reagieren hier aufgrund ihrer vorherigen Aktivierung auf ähnliche molekulare Strukturen mit einer Immunreaktion [Ward et al., 2022]. In einer großen retrospektiven Studie bei über zehn Millionen Militärangehörigen konnte ein möglicher Zusammenhang einer EBV-Infektion und der Ausbildung einer Multiplen Sklerose hergestellt werden [Bjornevik et al., 2022]. Es müssen aber weitere Auslöser eine entscheidende Rolle spielen. Als Risikofaktoren gelten eine familiäre Disposition, ein Vitamin-D-Mangel, bakterielle oder virale Infektionen, Übergewicht und Rauchen [Dighriri et al., 2023]. Die Diagnose stützt sich auf eine passende Anamnese, die klinischen Untersuchungsbefunde (zentral neurologische Defizite) sowie auf den Nachweis entzündlicher ZNS-Läsionen in einer Magnetresonanztomografie und Liquorpunktion. Eine wichtige Rolle spielt dabei die zeitliche und örtliche Dissemination („Streuung“) der Befunde, das heißt der Nachweis wechselnder Areale der Schädigung. Bei 95 bis 97 Prozent der Patientinnen und Patienten lassen sich im Liquor sogenannte oligoklonale Banden nachweisen. Hierbei handelt es sich um Immunglobuline, die im Rahmen einer chronischen ZNS-Entzündung in den liquorgefüllten Räumen gebildet werden und sich im Nachweisverfahren zu charakteristischen Banden zusammenlagern [Ruprecht et al., 2016]. Dennoch handelt es sich bei der Multiplen Sklerose um eine Ausschlussdiagnose, so dass Patienten bei einem Verdacht auf verschiedene andere Erkrankungen untersucht werden müssen (unter anderem Borreliose, Syphilis, Vaskulitiden) [Hemmer et al., 2021]. Die Therapie umfasst im akuten Schub die Gabe von Glukokortikoiden bis hin zur Plasmapherese. Im weiteren Verlauf werden je nach Aktivität der Erkrankung immunsuppressive oder immunmodulatorische Medikamente verabreicht (unter anderem auch monoklonale Antikörper). In der jüngeren Vergangenheit konnten hier eine Vielzm113 Nr. 10, 16.05.2023, (861) Dr. med. Justus Mählmann Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – Plastische und Ästhetische Operationen, DIAKOVERE Henriettenstift Marienstr. 72-90, 30171 Hannover Foto: DIAKOVERE Henriettenstift, Daniel Junker Abb. 2: Beispiel einer cMRT bei einem Patienten mit sichtbaren Läsionen (rote Pfeile) des periventrikulären Bereichs passend zu einer Multiplen Sklerose. Foto: DIAKOVERE Henriettenstift PD Dr. med. Dr. med. dent. Alexander Gröbe MBA, FEBOMFS Chefarzt, Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – Plastische und Ästhetische Operationen, DIAKOVERE Henriettenstift Marienstr. 72-90, 30171 Hannover Foto: DIAKOVERE Henriettenstift, Daniel Junker

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