ZAHNÄRZTLICHE MITTEILUNGEN | WWW.ZM-ONLINE.DE Handelt es sich wirklich um eine rezidivierende Keratozyste? Erst die histopathologische Untersuchung liefert einen anderen Befund – der besondere Fall mit CME. SEITE 40 Zahnärzte als Widerstandskämpfer und „Staatsfeinde“ in der Nazi-Zeit Die neue zm-Reihe widmet sich Personen, die im „Dritten Reich“ gegen das Regime opponiert haben. SEITE 48 Vorsicht beim Tausch Praxis gegen MVZ-Anstellung Ein realer Fall zeigt, welche Folgen es haben kann, wenn man seine Praxis an einen MVZ-Investor verkauft. SEITE 32 PZR-REVOLUTION Mit dem Intraoralscanner gegen Plaque AUSGABE 17 | 2023 zm 01.09.2023, Nr. 17
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EDITORIAL | 3 Der Widerstand formiert sich britischen NHS schauen, um zu wissen, was damit einhergehen kann. Auch in den hochgelobten skandinavischen Ländern ist der Zugang in die Gesundheitssysteme wesentlich restriktiver und mit viel längeren Wartezeiten verbunden. Was aber nicht geht, ist, seitens der Politik kontinuierlich gegen die Niedergelassenen zu arbeiten – sei es durch mehr oder weniger verdeckte Honorarkürzungen, immer neue bürokratische Hürden und eine Telematik-Infrastruktur, bei der konsequent an den Bedürfnissen derer, die damit arbeiten sollen, vorbeientwickelt wird. Daher ist es die logische Konsequenz, dass sich jetzt an verschiedenen Stellen deutlicher Widerstand formiert: In der Ärzteschaft, der Zahnärzteschaft und beim Assistenzpersonal. Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung setzt derzeit mit ihrer Kampagne „Zähne zeigen“ ein deutliches Zeichen. Der KZBV-Vorsitzende Martin Hendges hat an der KBV-Veranstaltung ebenfalls teilgenommen, um zu signalisieren, dass Zahnärzteschaft und Ärzteschaft zusammenstehen. Am 8. September gibt es die nächste Kundgebung der MFA und ZFA vor dem Brandenburger Tor, an dem auch die Zahnärzteschaft teilnimmt. Lauterbach sollte nicht den Fehler machen, all diese Signale zu ignorieren. Sascha Rudat Chefredakteur Lesen Sie mehr zur KBV-Krisensitzung ab S. 10. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hatte am 18. August zu einer „Krisensitzung“ ins Berliner Marriott-Hotel geladen. Vor nicht weniger als dem Kollaps der ambulanten ärztlichen Versorgung wurde unmittelbar vor dem Ende der parlamentarischen Sommerpause gewarnt. Nun könnte man sagen, Krise ist immer und motzen gehört zum Handwerk. Aber dieser Protest hatte eine andere Qualität. Unabhängig vom lautstarken Tumult, den die rund 800 Ärztinnen und Ärzte im Saal verursachten, waren in den mündlichen Berichten und in den Video-Einspielern viele ernsthafte Stimmen zu hören, denen die aufrichtige Sorge um die Zukunft der ambulanten Versorgung deutlich anzumerken war. Immer mehr Praxen schließen aus Altersgründen und werden nicht fortgeführt, die Patientinnen und Patienten verteilen sich auf die verbleibenden Praxen, die nicht zuletzt durch den Mangel an Assistenzpersonal an ihre Kapazitätsgrenzen kommen. Diese reale Situation trifft auf ein uneingeschränktes Leistungsversprechen der Politik an die Patienten. Diese wünschen sich eine wohnortnahe Versorgung mit freiem Zugang zu Haus- und Fachärzten bei möglichst kurzen Wartezeiten. Dass die bundesdeutsche Realität inzwischen ganz anders aussieht, bekommen die Bürgerinnen und Bürger immer deutlicher zu spüren – und das längst nicht mehr nur in strukturschwachen ländlichen Regionen. Als Lösung für diese Probleme verweist die Politik gerne auf den Versorgungsauftrag der Selbstverwaltung. Es wurde auf der anschließenden Pressekonferenz sehr deutlich gesagt, dass man diesen Versorgungsauftrag selbstverständlich annehme, er aber auch umsetzbar sein müsse. Und dies sei bei den gegenwärtigen Bedingungen nicht mehr der Fall. Das ist der Punkt. Der Sicherstellungsauftrag muss erfüllbar sein! Dafür muss die Politik die finanziellen und strukturellen Grundlagenschaffen. Aktuell sieht es aber so aus, als ob die Regierung den ambulanten Sektor ausbluten lassen möchte. Im Hause Lauterbach hegt man offenbar ein tiefes Misstrauen gegen die ärztliche und zahnärztliche Selbstverwaltung und die Freiberuflichkeit. Die Ideen von irgendwelchen kommunalen Versorgungsstrukturen, die aus dem BMG herausdiffundieren, sind mehr als hanebüchen. Als ob das, was in den Praxen in diesem Land – nicht zuletzt durch Selbstausbeutung der Praxisinhaberinnen und -inhaber – geleistet wird, auch nur im Ansatz in Versorgungskiosken, kommunalen MVZ und einer anderen Art staatlich gelenktem dritten Versorgungssektor erbracht werden könnte. Wer das glaubt, gibt sich dem totalen Selbstbetrug hin. Und wenn die Politik ernsthaft ein solches Modell etablieren möchte, muss sie das den Bürgerinnen und Bürgern offen und ehrlich sagen. Dann kann eine gesamtgesellschaftliche Debatte darüber geführt werden, ob man einen solchen Systemwechsel – denn nichts anderes wäre es – wirklich möchte. Man muss bei staatlich gelenkten Gesundheitssystemen nicht nur auf den Foto: Lopata/axentis
4 | INHALT 70 Therapiehund in der Praxis Vor allem Angstpatienten profitieren von dem neuen Teammitglied einer Gießener Zahnarztpraxis – Anouk, eine Australian-Shepherd-Hündin. 64 Wann kommt es zum spontanen Lückenschluss? Wird ein kariös tief zerstörter Sechsjahrmolar bei Kindern frühzeitig extrahiert, bedarf es nicht immer einer kieferorthopädischen Behandlung. MEINUNG 3 Editorial 8 Leitartikel POLITIK 10 Vertragsärzte stellen sieben Forderungen an die Politik „Ein deutlich hörbarer Weckruf!“ 14 Einsichten in ein föderales System Mundgesundheit in Kanada 32 Rechtliche Tücken statt Rundum-Sorglos-Paket Vorsicht beim Tausch Zahnarztpraxis gegen MVZ-Anstellung 56 E-Rezept, ePA und Forschungsdatengesetz Der Minister ruft zur Aufholjagd ZAHNMEDIZIN 40 Der besondere Fall mit CME Handelt es sich wirklich um eine rezidivierende Keratozyste? 46 Aus der Wissenschaft Eignet sich das orale Mikrobiom zur Kariesrisikobewertung? 64 Klinische Parameter bei frühzeitiger Extraktion des Sechsjahrmolaren Ist ein spontaner Lückenschluss vorhersagbar? 74 Studie zu ambulanten zahnärztlichen Behandlungen unter Narkose Effektive Schmerzausschaltung unter Sedierung TITELSTORY 20 Digitale Plaque-Dokumentation Der Intraoralscanner im Prophylaxeprogramm 28 Dreidimensionale Erfassung der oralen Biofilme Wie der Intraoralscanner das Plaquevolumen misst PRAXIS 36 Studie zur professionellen Gesundheitskompetenz Bei der Informationsvermittlung haben viele Ärzte Probleme 58 Praktikum in der Praxis Kommt ein Praktikant in die Praxis 70 Therapiehund in der Praxis Und dann kam Anouk Inhalt zm113 Nr. 17, 01.09.2023, (1426)
INHALT | 5 80 Sonne, Strand und Niederlassung Die OPTI Summer School will jungen Gründern auf dem Weg zur eigenen Praxis effektives Lernen ermöglichen – und das geht nur mit viel Erholung und guter Laune. TITELSTORY 20 Revolution für die Prophylaxe Der Intraoralscanner als digitales Multifunktionsinstrument kann selbst kleine Plaquemengen fotorealistisch darstellen – und bietet damit neue Perspektiven für die PZR. GESELLSCHAFT 34 Tag der Zahngesundheit 2023 „Prävention hilft immer – egal, welchen Hintergrund man hat“ 48 Widerstandskämpfer und „Staatsfeinde“ im Dritten Reich Ulrich Boelsen (1900-1990) – Mitglied des „Leuschner-Netzes“ 52 Interview mit Dominik Groß und Sarah Wellens „Es war schon eher die Suche nach der Nadel im Heuhaufen“ 62 Junge Helden e.V. Ein Tattoo könnte Leben retten 77 Hohe Burn-out-Raten im US-Gesundheitswesen Mehr Wertschätzung und weniger Bürokratie sind der Schlüssel zmSTARTER 80 10 Jahre OPTI Summer School Das Bootcamp für die Gründung 84 Praxismarketing mit besonderer Herausforderung Übernahme und Umzug in einem Rutsch 86 Probleme durch Nachzahlungen und Abschreibungen Steuerfallen für Existenzgründer 90 Famulatur im Studium Vier Wochen Praxisluft 92 Auslandsfamulatur in Nepal „Der krasseste Fall war die OP eines Mannes nach einem Bärenangriff“ MARKT 97 Neuheiten RUBRIKEN 31 News 39, 79, 94 Bekanntmachungen 60 Termine 96 Impressum 55 Formular 114 Zu guter Letzt Foto: Copyright zm113 Nr. 17, 01.09.2023, (1427) Titelfoto: Katja Jung
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Im Interview mit der Ärzte Zeitung packte Brandenburgs Grünen-Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher kürzlich die große Keule gegenüber der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen aus: „Extrem komplex“, werde „von niemandem mehr verstanden“ und sei „auch für unsere Demokratie ein Problem“. Diese Provokation entbehrt natürlich jeder Grundlage, dennoch versteht man Nonnemachers Anliegen: „Ich komme ja viel im Land herum – und egal, wo ich bin, heißt es immer wieder: Können Sie uns mal einen Augenarzt schicken? Wir brauchen einen Hausarzt! Und dann muss ich den Leuten erklären, dass ich dafür nicht zuständig bin.“ Die Landflucht mag in der Zahnmedizin noch etwas geringer sein als in der allgemeinen Medizin, doch wissen gerade wir als Experten der Prävention, dass Vorbeugen nicht mit Abwarten gelingt. „Wo liegen die Gründe für die Landflucht und was lässt sich tun?“ war deshalb Thema der diesjährigen Klausurtagung der Bundeszahnärztekammer in Warnemünde. Die Landflucht ist nur das Symptom einer größeren „Grunderkrankung“. Diese besteht darin, dass das Image einer eigenen Praxis bei jüngeren Kolleginnen und Kollegen gelitten hat. Drei Gründe stehen im Vordergrund: 1. Die Gesundheitspolitik in Deutschland hat viel zu lange Geld und Ressourcen in den stationären Bereich mit angestellten Ärztinnen und Ärzten gesteckt. Die eigenverantwortliche ambulante Versorgung, zu der auch die Zahnmedizin zählt, wurde mehr und mehr vernachlässigt. 2. Übertriebene und widerlegte Äußerungen aus dem eigenen Berufsstand haben ebenfalls zu dem schlechten Image beigetragen: Die „kleine“ Praxis würde den Anforderungen an moderne Zahnmedizin nicht mehr gerecht, eine Landpraxis hätte weniger Gewinn zu erwarten und nur die Anstellung mache Verwaltung und Bürokratie erträglich. 3. Dieses negative Image trifft auf junge Menschen, die nach der aktuellen Sichtweise ihren Schwerpunkt vielleicht weniger auf die Arbeit legen und die sich mit Verantwortung und ortsfester Lebensplanung möglicherweise schwerer tun. Diese Gemengelage aus Psychologie und Fehlern der Vergangenheit braucht einen Reset. Zwei Punkte stehen im Vordergrund: 1. Relevanz der „kleinen“ Praxis erkennen und sie entlasten Auch wenn Karl Lauterbach gerade Cannabis-Schwaden, Hitzewellen und neue Virusvarianten aufbietet, um von der weitgehend ungelösten Misere der stationären Versorgung abzulenken, sollte inzwischen jedem klar sein, dass eine wohnortnahe, zuverlässige und wirtschaftliche Gesundheitsversorgung nur mit eigenverantwortlichen, kleinen Praxiseinheiten gelingen kann. Gerade die Erfolge der Mundgesundheit in Deutschland zeigen, wie erfolgreich die kleine Praxis hier agiert hat. Aber „klein“ bedeutet eben auch zu klein, um Zeit mit sinnleerer Bürokratie zu verschwenden. Hygiene- „Bedrohungen“, die sich niemals gezeigt haben, müssen nicht wegvalidiert werden und digitale Konzepte sollen in erster Linie die tägliche Arbeit erleichtern, aber nicht primär Datensammlungen für wolkige Wissenschaftsfantasien generieren. Entscheidungen über unsere Köpfe hinweg füttern nur die Bürokratie, lassen aber weder Motivation noch Engagement entstehen. 2. Nachwuchs besser auswählen und konstruktiv unterstützen Es ist jede Anstrengung wert, die Auswahl der Studentinnen und Studenten der Zahnmedizin besser an den Bedürfnissen der zahnärztlichen Praxis zu orientieren. Anfang der 90er-Jahre hat die individuelle Auswahl nach eigener Anschauung wunderbar funktioniert: Begeisterte Studierende wurden zu engagierten Zahnärztinnen und Zahnärzten. Der Vorstand der Bundeszahnärztekammer hat sich dafür ausgesprochen, dieses AuswahlKonzept neu zu beleben. Aber wir dürfen unseren beruflichen Nachwuchs auch nicht vergraulen. Eine junge Hochschullehrerin brachte es kürzlich auf diesen Punkt: Bitte schickt uns nicht mehr die alten Männer in die Berufskundevorlesung, die nur von Praxis und Zahnmedizin abraten. Die Ziele der BZÄK zu Praxis und Land werden demnächst als WarnemünderErklärung erscheinen. Prof. Dr. Christoph Benz Präsident der Bundeszahnärztekammer Auf dem Land wird es eng Foto: GEORG JOHANNES LOPATA-AXENTIS.DE 8 | MEINUNG
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10 | POLITIK VERTRAGSÄRZTE STELLEN SIEBEN FORDERUNGEN AN DIE POLITIK „Ein deutlich hörbarer Weckruf!“ Hunderte niedergelassene Ärztinnen und Ärzte trafen sich am 18. August zu einer Krisensitzung in Berlin – darunter die Delegierten der Vertreterversammlungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der 17 Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen). In einem Votum verabschiedeten sie einen klaren Forderungskatalog an die Politik. So könne es nicht weitergehen, hieß ihre Botschaft. Die Politik und insbesondere Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach seien nun aufgerufen, die Forderungen der Ärzte umzusetzen – ansonsten drohe der Praxenkollaps. „Taten statt Sprüche, sonst geht´s in die Brüche!“ Mit Klatschpappen, Fähnchen und Pfiffen machten die rund 800 Teilnehmenden ihrem Ärger über die Gesundheitspolitik auf der SonderVertreterversammlung Luft. „Praxis weg, Gesundheit weg“, „Taten statt Sprüche, sonst geht´s in die Brüche“ oder „Was ist vom Traumberuf geblieben? Rufbereitschaft 24/7“ stand auf den Transparenten. Der KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. Andreas Gassen fand in seiner Rede starke Worte: „Es ist fünf vor zwölf – die Praxen in Deutschland arbeiten längst über dem Limit,“ sagte er. „Deshalb fordern wir die Politik auf: Halten Sie Ihre Versprechen und handeln Sie endlich! Verhindern Sie das Aus der ambulanten Versorgung.“ Unter den gegebenen Rahmenbedingungen seien laut Gassen immer weniger Menschen bereit, in einer Praxis zu arbeiten. „Wenn sich nicht bald etwas ändert, geht in den Praxen das Licht aus“, prophezeite er. Deshalb wende man sich nun direkt an die Politik. „Verhindern Sie das Aus der ambulanten Versorgung!“ Die VV-Vorsitzende Dr. Petra ReisBerkowicz betonte, es sei die Pflicht der Vertragsärzte, den drohenden Zusammenbruch der vertragsärztlichen Versorgung zu verhindern. Von der Sondersitzung solle ein deutliches Signal an die Öffentlichkeit ausgehen. Die Delegierten der 17 KVen stellten klar, wo aus ihrer Sicht dringender Handlungsbedarf in der Versorgung besteht. Dazu gehörten eine tragfähige Finanzierung der Versorgung unter Berücksichtigung von Inflation und Kostensteigerung, ein Ende der Budgetierung und Bürokratie, Maßnahmen Hunderte Vertragsärzte trafen zu einer Krisensitzung in Berlin zusammen, um Forderungen an die Politik zu stellen. Ihre Botschaft: Die Praxen sind am Limit. Foto: zm/sr zm113 Nr. 17, 01.09.2023, (1432)
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12 | POLITIK zm113 Nr. 17, 01.09.2023, (1434) gegen den Praxisnachfolger- und Fachkräftemangel, der Wegfall von Regressen und Sanktionen und eine Digitalisierung, die den Arbeitsalltag in den Praxen erleichtert. Der stellvertretende KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. Stephan Hofmeister erklärte: „Spätestens jetzt muss den politisch Verantwortlichen endlich klarwerden, dass wir hier keine Funktionärsdebatten führen, sondern dass es um die Substanz der ambulanten Versorgung in Deutschland geht.“ Hofmeister weiter: „Wenn die Politik jetzt nicht handelt, sondern im Ankündigungsmodus oder im Wegschauen verharrt, droht ein Ausbluten der patientennahen ambulanten Versorgung, wie wir sie kennen.“ Budgets auf der einen und Rundum-die-Uhr-Leistungsversprechen auf der anderen Seite passten einfach nicht zusammen. „Was wir brauchen, ist ein Praxiszukunftsgesetz!“ KBV-Vorstandsmitglied Dr. Sibylle Steiner machte darauf aufmerksam, dass die Niedergelassenen auch bei der Digitalisierung einen Kurswechsel erwarten. Es gehe nicht an, dass ihnen immer wieder Sanktionen und Bußgelder angedroht würden, obwohl digitale Anwendungen nicht funktionierten und keinen spürbaren Nutzen brächten. „Was wir brauchen, ist ein Praxiszukunftsgesetz, das die erforderlichen Investitionen der Praxen in ausreichend getestete, nutzerfreundliche und funktionstüchtige Technik kostendeckend absichert“, forderte sie. Der von der Versammlung verabschiedete Katalog aus sieben Forderungen mit Lösungsvorschlägen wurde an Lauterbach übermittelt mit der Aufforderung, bis zum 13. September Stellung zu beziehen und konkrete Umsetzungsschritte zu benennen. Wenn das nicht erfolgt, müsse das nach außen hin auch für die Bürger spürbar werden, hieß es bei der KBV. Dann ergebe sich auch Handlungsdruck für die Politik. Den Ärzten gehe es darum, zu verdeutlichen, dass eine irreversible Veränderung im Gesundheitswesen ansteht und diese gelte es, zu verhindern. Wie formulierte es auf der Sondersitzung ein Niedergelassener? Er habe immer Arzt sein wollen – kein Widerstandskämpfer. pr „Die Versorgung wird verramscht!“ Dr. Andreas Gassen erinnerte Lauterbach an sein Versprechen, es werde für die Ärzte keine Leistungskürzungen geben und er werde sich für die Freiberuflichkeit einsetzen. Stattdessen würden die Rahmenbedingungen für Praxen immer schlechter. Zu der Sondersitzung waren auch Vertreterinnen und Vertreter anderer Berufsverbände geladen, so auch der Vorsitzende des Vorstands der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) Martin Hendges. „Mir fehlt jegliches Verständnis, dass sich der Bundesgesundheitsminister beim Zielkonflikt zwischen einer präventionsorientierten, wohnortnahen, flächendeckenden Versorgung und einer kurzsichtigen Sparpolitik auf die die Seite der Kostendämpfung schlägt“, sagte Hendges. Und weiter: „Ich fordere den Bundesgesundheitsminister und die Ampelkoalition auf: Heben Sie die strikte Budgetierung wieder auf! Machen Sie Politik für eine präventionsorientierte, wohnortnahe, flächendeckende Patientenversorgung!“ (v.l.n.r.: Dr. Sibylle Steiner, Martin Hendges, Dr. Stephan Hofmeister. Dr. Andreas Gassen und Dr. Petra Reis-Berkowicz) Fotos: zm/sr DIE 7 FORDERUNGEN DER VERTRAGSÄRZTE: eine tragfähige Finanzierung Abschaffung der Budgets Ambulantisierung sinnvolle Digitalisierung mehr Weiterbildung in den Praxen weniger Bürokratie keine Regresse Den Forderungskatalog finden Sie über den QR-Code.
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zm113 Nr. 17, 01.09.2023, (1436) 14 | POLITIK EINSICHTEN IN EIN FÖRDERALES SYSTEM Mundgesundheit in Kanada Kanada hinkt hinterher, wenn es um die Bereitstellung öffentlicher Gelder für die zahnärztliche Versorgung geht: Das Land steht im OECD-Vergleich ganz unten. Der von der Regierung eingebrachte Canadian Dental Care Plan könnte das jetzt ändern. Inden22europäischenLändern,fürdie im Jahr 2019 Daten verfügbar waren, stemmte die öffentliche Hand durchschnittlich 31 Prozent der Gesamtausgaben für die zahnmedizinische Versorgung. Im Vergleich dazu lag der Anteil in Kanada bei 6 Prozent. Pro Kopf sind das etwa 10,60 Euro. Nur in Mexiko, Griechenland, Israel und Spanien gibt der der Staat aktuell weniger für die Zahngesundheit aus, wie eine Auswertung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt (siehe Abbildung). „Gerade vulnerable Gruppen haben Schwierigkeiten beim Zugang zu regelmäßiger zahnärztlicher Versorgung", bilanzierenWissenschaftlerausToronto in einer neuen Studie und nennen in dem Zusammenhang nicht weniger als: Kinder, pflegebedürftige Senioren, Menschen mit indigenem Background, neue Einwanderer mit Flüchtlingsstatus, Menschen mit Behinderung und alle, die wenig Geld haben. Das Selbstzahlermodell hat sich nicht bewährt Für all diese Kanadier könnte sich das Blatt jetzt wenden, denn die New Democratic Party will die liberale Minderheitsregierung von Justin Trudeau künftig in Abstimmungen unterstützen,sofernjenezuEingeständnissenbereit ist. Eine dieser Bedingungen: die öffentliche Finanzierung der Zahnpflege. In ihrem Haushalt für 2023 stellte die kanadische Regierung daher 13 Milliarden Dollar über einen Zeitraum von fünf Jahren und fortlaufend 4,4 Milliarden US-Dollar bereit, um die zahnärztliche Versorgung von armen Familien ohne Zahnversicherung sicherzustellen. Umfragen zufolge unterstützen zwei Drittel der Kanadier den Vorstoß, aber weniger als die Hälfte würden noch mitgehen, wenn damit Steuererhöhungen verbunden wären. Bereits im Oktober 2022 hatte die Politik ein zweijähriges Übergangsprogramm gestartet: den Canada Dental Benefit, eine antragsbasierte Geldleistung für Kinder aus Haushalten mit einem Nettoeinkommen von weniger als 90.000 US-Dollar. Haben Familien weniger als 70.000 US-Dollar zur Verfügung, erhalten sie bis zu 650 US-Dollar pro Kind für zahnärztliche Maßnahmen, verdienen sie bis zu 90.000 USDollar, bekommen sie maximal 260 US-Dollar – steuerfrei. Das Programm wurde Ende 2022 zunächst auf Kinder unter zwölf Jahren ausgeweitet; Kinder unter 18 Jahren, Senioren und Menschen mit Behinderungen sind ab 2023 versichert; Ende 2025 alle Familien unterhalb jener Einkommensgrenze. Zudem hat sich die Regierung verpflichtet, ab 2025 über einen Zeitraum von drei Jahren weitere 250 Millionen Dollar für die Zahnmedizin bereitzustellen: Über einen Fonds will sie gezielt in Programme investieren, die die Lücken in der Mundgesundheit schließen und Zugangsprobleme zur Versorgung bei vulnerablen Bevölkerungsgruppen beheben, insbesondere für Menschen, die in ländlichen und abgelegenen Gemeinden leben. Orale Gesundheit ist teuer Wie dramatisch die Lage ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Mehr als jeder fünfte Kanadier (22,4 Prozent) geht aus Kostengründen nicht zum Zahnarzt, wie das Institute for Research on Public Policy (IRPP) aus Montreal anhand offizieller Statistiken von 2019 belegt. Sobald sie in Rente gehen, reduzieren die Menschen ihre Zahnarztbesuche sogar noch weiter, weil dann der VersiDie Kanadier sind eigentlich stolz auf ihre universelle Gesundheitsfürsorge, aber die zahnärztliche Versorgung ist eine der größten Lücken im System. Foto: Kobrinphoto_stock.adobe.com
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16 | POLITIK cherungsschutz über den Arbeitgeber wegfällt. Dass die öffentliche Zahnpflege kein Mandat hat, hat die Ungleichheit in Sachen Mundgesundheit in den vergangenen 40 Jahren noch verschärft. So liegt die Prävalenz frühkindlicher Karies bei drei- bis fünfjährigen indigenen Kindern bei 85 Prozent. Einkommensbedingte Unterschiede in der selbstberichteten Mundgesundheit bestehen in allen Altersgruppen und Geschlechtern, wobei 20- bis 64-Jährige das größte Ausmaß der Ungleichheit erleben. Da nur bestimmte in Krankenhäusern zu erbringende chirurgisch-zahnärztliche Leistungen überhaupt durch die Versicherung abgedeckt sind, wenden sich Menschen mit wenig Geld selbst für eine Standardzahnbehandlung zumeist an Arztpraxen oder Notaufnahmen. Dort landen sie natürlich auch, wenn unbehandelte orale Erkrankungen zu Atemwegsbeeinträchtigungen, Endokarditis oder Halsabszessen geführt haben. Karies ist übrigens in Kanada der häufigste Grund für einen chirurgischen Eingriff unter Vollnarkose bei Kindern im Alter von ein bis fünf Jahren – mehr als infolge von Ohr- oder Mandelentzündungen. Tatsächlich gab es in Alberta von 2011 bis 2016 mehr Besuche in der Notaufnahme aufgrund von Zahnproblemen als wegen Asthma und Diabetes, und in British Columbia wurden 70 Prozent dieser Besuche als nicht dringend eingestuft. Allein in Ontario wurden 2014 fast 61.000 Behandlungen in Notaufnahmen wegen Mundgesundheitsproblemen durchgeführt, was geschätzte Kosten von mindestens 31 Millionen US-Dollar verursacht hat. Eine Versicherung löst nicht alle Probleme Dennoch löse ein Versicherungsschutz nicht automatisch alle Probleme, gibt Colleen M. Flood vom IRPP zu bedenken. So ist in Québec die Zahl der Notaufnahmefälle bei Zahnerkrankungen – insbesondere Karies – von 2004 bis 2013 nach oben gegangen, obwohl es dort eine staatlich finanzierte zahnärztliche Versorgung für Kinder unter zehn Jahren gibt. Zurückzuführen sei der Anstieg teilweise auf mangelnde Kenntnisse über die Mundgesundheit, eine „abwartende“ Haltung und Laiendiagnosen seitens der Eltern, berichtet das Team um Flood. Insgesamt zeige die alarmierende Häufigkeit von Besuchen in der Notaufnahme wegen Mundgesundheitsproblemen, insbesondere bei Kindern, Einwanderern, Geflüchteten, Obdachlosen und indigenen Bevölkerungsgruppen, wie groß die Hindernisse beim Zugang zur zahnärztlichen Versorgung für marginalisierte Gruppen sind. Dabei vergrößere die schlechte Verteilung der Zahnarztpraxen die Kluft hinsichtlich der Erreichbarkeit noch weiter, da die meisten Zahnärzte in Gegenden mit höherem Haushaltseinkommen praktizieren, kritisieren die Forscher vom IRPP: „Selbst diejenigen, die Anspruch auf eine der begrenzten öffentlichen Zahnversicherungen in Kanada haben, haben oftmals keinen Zugang zur zahnärztlichen Versorgung." Zudem zögerten Zahnärzte – möglicherweise aufgrund der niedrigeren Gebühren der öffentlichen Kostenträger – besonders bedürftige Patienten wie Sozialhilfeempfänger anzunehmen. Es sei für sie schlichtweg unkomplizierter, Patienten mit höherem Einkommen mit einer privaten Zahnversicherung zu behandeln und abzurechnen. Bei den Patienten sei Scham oft ein Grund, sich nicht behandeln zu lassen: Aus Angst, wegen mangelhafter oraler Hygiene verurteilt zu werden, trauen sich viele nicht zum Zahnarzt. Einigen falle es auch schwer, sich eine Auszeit von der Arbeit, familiären Verpflichtungen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen zu nehmen. Im Übrigen mangele es vielleicht auch an deröffentlichen Wertschätzung für die Notwendigkeit zahnärztlicher Prävention, schreiben die Autoren. Ohne die Überweisung an einen Zahnarzt zur fachkundigen Beurteilung und Behandlung werden Patienten den Forschern zufolge aber weiter Krankenhäuser oder Arztpraxen aufsuchen, was ihre Gesundheit weiter verschlechtert und das System zusätzlich belastet. Ein Paradebeispiel dafür sei unentdeckter oder verzögert erkannter Mundkrebs: zm113 Nr. 17, 01.09.2023, (1438) HOHE GESUNDHEITSAUSGABEN, ABER KEINE GERECHTE VERSORGUNG Kanada ist das zweitgrößte Land der Erde. Auf den 9,98 Millionen Quadratkilometern leben aber nur rund 38 Millionen Menschen. Während in Städten wie Vancouver, Montreal und Toronto vermehrt Menschen mit europäischen Wurzeln wohnen, ist über die Hälfte der indigenen Bevölkerung in Reservaten (40 Prozent) und auf dem Land (14 Prozent) zu Hause. Stark besiedelt sind die südöstlichen Provinzen Ontario (14,7 Millionen) und Quebec (8,6 Millionen) und das Land entlang der Grenze zu den USA. Die gesundheitliche Infrastruktur ist auf dem Land viel schlechter als in der Stadt, die Lebenserwartung auch, das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko höher. Krankheiten wie Depressionen, Bluthochdruck oder Rheuma treten hier ebenfalls häufiger auf. Die Gesundheitsversorgung erfolgt vor allem über Kliniken und private Praxen. Für Facharztbesuche benötigt man eine Überweisung. Auf 1.000 Einwohner kommen in Kanada nur 2,7 Ärzte und 0,65 Zahnärzte, die überdies im Land sehr ungleich verteilt sind. In Deutschland sind es 4,5 beziehungsweise 0,85. Mit 5.370 US-Dollar pro Kopf und einem Anteil von 10,8 Prozent am BIP zählt Kanada zu den Ländern mit überdurchschnittlich hohen Gesundheitsausgaben. Die Kosten pro Kopf liegen damit 2.000 US-Dollar über dem Durchschnitt aller OECD-Staaten. Zwischen Januar 2016 und September 2018 sind 10.337 Kanadier an einer Opioid-bedingten Überdosis gestorben.
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zm113 Nr. 17, 01.09.2023, (1440) 18 | POLITIK Mehr als die Hälfte der von 2005 bis 2017 kumulierten Mundkrebsfälle in Alberta wurden im Stadium IV diagnostiziert, wobei die Überlebensraten bei indigenen und ländlichen Bevölkerungsgruppen am niedrigsten waren. Oder die Verschreibungspraxis von Opioiden: Patienten erhalten trotz der kanadischen Opioidkrise und ohne jede Diagnose nicht selten ein Opioidrezept gegen Zahnschmerzen. Wie aber sollte die Regierung jetzt vorgehen? Das IRPP schlägt insbesondere vor, eine unabhängige Behörde einzusetzen, die von der Bundesregierung finanziert wird und an die die Provinzen ihre Kompetenzen abtreten, um verfassungsrechtliche Streitigkeiten zu vermeiden. „Eine zentrale Behörde könnte auch transparente Standards für den Versicherungsschutz in ganz Kanada festlegen und ein faires Verfahren zur Bestimmung des Leistungsumfangs schaffen", heißt es in dem Bericht. Diese Behörde würde auch die Zusammenarbeit mit der privaten Versicherung regeln, etwa indem sie Zusatzrechnungen und Upselling verbietet. „Unserer Ansicht nach sollte die Bundesregierung sowohl aus Gründen der Gerechtigkeit als auch der Effizienz das Ziel einer flächendeckenden zahnärztlichen Versorgung für einen Kernbestand an notwendigen Leistungen anstreben", bilanziert Flood. ck Flood, C., Allin, S., Lazin, S., Marchildon, G., Oliver, P, & Quiñonez, C. (2023). Toward a Universal Dental Care Plan: Policy Options for Canada. IRPP Insight 46. Institute for Research on Public Policy Levy, B.B., Goodman, J. & Eskander, A. Oral healthcare disparities in Canada: filling in the gaps. Can J Public Health 114, 139–145 (2023). https://doi. org/10.17269 ZUM ZAHNARZT GEHT, WER ES SICH LEISTEN KANN In Kanada sind die Provinz- und Territorialregierungen für die Verwaltung, Organisation und Bereitstellung von Gesundheitsdiensten für die Bevölkerung verantwortlich. Der Bund legt im „Canada Health Act“ (CHA) lediglich die Rahmenbedingungen für das Gesundheitssystem fest. Diese Aufgabenteilung führt dazu, dass Kanada 13 provinzielle/territoriale Krankenversicherungspläne hat. Das kanadische Gesundheitssystem „Medicare“ ist staatlich finanziert, bezahlt aber nur medizinisch notwendige Krankenhausund Arztleistungen. Der CHA verlangt daher von den Provinzen und Territorien keine Kostenübernahme für zahnärztliche Behandlungen, mit Ausnahme von chirurgischen Leistungen, die in Krankenhäusern erbracht werden – zum Beispiel die Extraktion eines infizierten Zahnes bei einem Krebspatienten. Aber diese Fälle kommen relativ selten vor. Der sehr begrenzte öffentliche Schutz wird in der Regel auch nur Sozialhilfeempfängern, Senioren und Kanadiern mit niedrigem Einkommen gewährt. Die meisten zahnärztlichen Leistungen werden daher über eine Privatversicherung abgedeckt oder/und aus eigener Tasche bezahlt. Oder aber man verzichtet ganz auf zahnmedizinische Pflege. Wie eine Kfz-Versicherung, die den Ölwechsel bezahlt, aber bei Unfällen nicht einspringt Offiziellen Schätzungen zufolge hatte 2020 ein Drittel (32 Prozent) der Kanadier überhaupt keinen Zahnversicherungsschutz. Die restlichen zwei Drittel waren zu 76 Prozent über ihren Arbeitgeber versichert, der eine Steuererleichterung für seinen Beitrag zur Prämie erhält. Experten zufolge ist der Begriff „Versicherung“ allerdings irreführend, da nur die routinemäßige Pflege abgesichert wird, während die jährlichen Deckungsgrenzen von in der Regel 2.000 US-Dollar nur wenig Schutz bieten, wenn es um kostenintensive Verfahren wie restaurative Leistungen geht. Dies sei vergleichbar mit einer Kfz-Versicherung, die die regelmäßigen Wartungsarbeiten und Ölwechsel bezahlt, aber bei Unfällen nicht einspringt, kritisieren sie. Der Prozentsatz der Kanadier mit mittlerem Einkommen, die die Kosten als Hürde bei der Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen sehen, sei demzufolge von 12,6 Prozent im Jahr 1996 auf 34,1 Prozent im Jahr 2009 gestiegen. Vor dem Canadian Health Measures Survey (CHMS), der von 2007 bis 2009 auch die Mundgesundheitsdaten der Kanadier erhoben hat, wurden die einzigen klinischen Daten dazu 38 Jahre zuvor gemessen. Krankenhausunterlagen über Einweisungen im Zusammenhang mit Zahnerkrankungen sind aufgrund konkurrierender Codes und mangelnder Vertrautheit damit im Krankenhausumfeld häufig ungenau. Obwohl die Ungleichheiten im Bereich Oral Health weiter zugenommen haben, wird laut Fachleuten voraussichtlich weit über ein Jahrzehnt vergehen, bis wieder ein aktualisierter Überblick über die Mundgesundheit in Kanada vorliegt. Kanada nimmt unter 31 OECD-Ländern den 27. Platz ein, was den prozentualen Anteil der Ausgaben für die zahnärztliche Versorgung durch staatliche Programme angeht. Foto:OECD
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20 | TITEL zm113 Nr. 17, 01.09.2023, (1442) DIGITALE PLAQUE-DOKUMENTATION Der Intraoralscanner im Prophylaxeprogramm Katja Jung, Melina Hartmann, Katja Giese-Kraft, Carolina Ganß Mit zunehmenden technischen Fortschritten entwickelt sich der Intraoralscanner in der Zahnmedizin immer weiter zu einem digitalen Multifunktionsinstrument. Für die meisten zahnärztlichen Disziplinen liegen heute bereits teils umfangreiche Anwendungsoptionen vor. Die Möglichkeit, Plaque darzustellen und sogar quantitativ zu bestimmen, bietet neue Perspektiven für den Einsatz in der Prophylaxe. Den Grundstein für die moderne zahnärztliche Prävention legte der schwedische Forscher Per Axelsson. Er gilt als Pionier der primären Prävention oraler Erkrankungen bei Erwachsenen und leitete mit seinen Studien den Paradigmenwechsel „Vorsorgen statt Versorgen“ ein [Axelsson und Lindhe, 1978; 1981]. Über einen Zeitraum von 30 Jahren konnte er mit dem sogenannten Karlstad-Modell zeigen, dass eine verbesserte Mundhygiene durch regelmäßige Instruktion sowie regelmäßige professionelle Zahnreinigung (PZR) das Wiederauftreten von Zahnerkrankungen wirksam verhindern kann [Axelsson et al., 2004]. Basierend auf diesen Erkenntnissen verglich die Arbeitsgruppe von Hugoson et al. [2007] verschiedene Arten von Prophylaxeprogrammen miteinander und konnte zeigen, dass eine individuelle Beratung, Instruktion und ein anschließendes Hands-on-Training zu den besten Ergebnissen bei der Plaquereduktion führen. Dabei waren Kontrolltermine alle zwei Monate über mehrere Jahre hinweg (wie im KarlstadModell) nicht zwangsläufig effektiver als mehrere anfängliche Prophylaxesitzungen, gefolgt von einem jährlichen Kontrolltermin. Sie betonen aber auch, dass das optimale Zeitintervall von verschiedenen Faktoren, etwa dem individuellen Karies- und Parodontitisrisiko, den Mundhygienegewohnheiten und der Wirksamkeit früherer Prophylaxesitzungen, abhängt. Die heutigen Präventionsstrategien beruhen auf diesen Ergebnissen, allerdings zeigten die retrospektiven Auswertungen des Prophylaxeprogramms an der Universität Gießen, dass sich das Inanspruchnahmeverhalten der Patientinnen und Patienten im Laufe der Jahre verändert hat. Wurden anfangs einzelne Module mit unterschiedlichen Inhalten in kurzen Abständen Die Scanqualität der Intraoralscanner ist mittlerweile so hoch, dass die Aufnahmen nahezu fotorealistisch sind und selbst kleine Plaquemengen gut dargestellt werden können. Das macht den Einsatz der Scanner als Beratungs- und Motivationsinstrument in Prophylaxeprogrammen außerordentlich interessant. Foto: Katja Jung
TITEL | 21 zm113 Nr. 17, 01.09.2023, (1443) wahrgenommen, stand später das Mundhygienemodul mit PZR in größeren Zeitabständen im Vordergrund. Die Patienten „konsumierten“ die professionelle Zahnreinigung und die Plaquewerte stagnierten oder verschlechterten sich sogar, speziell bei denjenigen, die mit guter Mundhygiene in das Programm einstiegen [Ganß et al., 2019]. Möglicherweise wiegt die regelmäßige PZR die Patienten in falscher Sicherheit. Zu diesem Ergebnis kamen auch Hugoson et al. [2007], in deren Studie die Patienten nach drei Jahren mit einem Instruktionsprogramm mit PZR signifikant mehr Plaque aufwiesen als die gleiche Instruktionsgruppe ohne PZR (Anzahl plaquebedeckter Zahnflächen: 22,1±21,1 vs. 12,9±12,2). Plaquedokumentation und Mundhygieneinstruktion Intraoralscanner haben sich in den vergangenen Jahren zu einem innovativen Tool entwickelt, das viele Bereiche der Zahnmedizin unterstützt. Neben der digitalen Abformung [Aswani et al., 2020; Schmidt et al., 2022] stehen mittlerweile zahlreiche Zusatzfunktionen wie die Kariesdiagnostik [Schlenz et al., 2022], das Monitoring der Zahnhartsubstanz [Schlenz et al., 2023], die Simulation von Zahnbewegungen [Kook et al., 2019], die Visualisierung von Behandlungsergebnissen, aber auch die platzsparende und dauerhafte Dokumentation des Zahnstatus zur Verfügung. Seitdem die Möglichkeit besteht, farbige Scans zu erzeugen, ist nun auch der Einsatz zur Darstellung [Doi et al., 2021] und zum Monitoring der Mundhygiene möglich. Die Scanqualität ist mittlerweile so hoch, dass die Aufnahmen nahezu fotorealistisch sind und auch kleine Plaquemengen gut dargestellt werden können [Giese-Kraft et al., 2022]. Dies macht den Einsatz von Intraoralscannern besonders als Beratungs- und Motivationsinstrument in Prophylaxeprogrammen außerordentlich interessant. Dazu werden die Zähne wie üblich mit Plaquerevelatoren angefärbt und anschließend mit dem Intraoralscanner digitalisiert. Danach können die Patienten ihre Mundhygienesituation in bewegter 3-D-Ansicht durch Drehen der Zahnbögen im dreidimensionalen Raum betrachten und erleben. Hierdurch ist es möglich, die Gesamtheit aller Zahnflächen ohne limitierende Faktoren, wie zum Beispiel die Zunge, die Wange oder eine eingeschränkte Mundöffnung, anschaulich und detailgetreu darzustellen. Damit wird die habituelle Plaque, die nach der häuslichen Mundhygiene verblieben ist, auch in bisher schwer erkennbaren Bereichen deutlich sichtbar. Dazu zählen insbesondere alle vestibulär-distalen und alle oralen Flächen (Abbildung 1). Mit wiederholten Intraoralscans kann der Erfolg von Mundhygieneinstruktionen sehr gut beurteilt werden. Abb. 1: Intraoralscan einer jungen Patientin mit insgesamt guter Mundhygiene: Der Intraoralscan ermöglicht eine freie Sicht auf alle Bereiche des Zahnbogens. Insbesondere die oralen Flächen sowie der Zahn 18 können so gut visualisiert und instruiert werden, damit diesen Bereichen in Zukunft mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Foto: Katja Jung Dr. Katja Giese-Kraft Zentrum für Zahn-, Mundund Kieferheilkunde Poliklinik für Zahnerhaltungskunde und Endodontologie Justus-Liebig-Universität Gießen Schlangenzahl 14, 35392 Gießen Foto: Fotoatelier Susanne Hofmann Dr. Katja Jung Poliklinik für Zahnerhaltungskunde, Sektion Kariologie, Medizinisches Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Philipps-Universität Marburg und Universitätsklinikum Gießen und Marburg Georg-Voigt-Str. 3, 35039 Marburg Foto: Sandra Burghausen Dr. Melina Hartmann Poliklinik für Zahnerhaltungskunde, Sektion Kariologie, Medizinisches Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Philipps-Universität Marburg und Universitätsklinikum Gießen und Marburg Georg-Voigt-Str. 3, 35039 Marburg Foto: privat Prof. Dr. Carolina Ganß Poliklinik für Zahnerhaltungskunde, Sektion Kariologie, Medizinisches Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Philipps-Universität Marburg und Universitätsklinikum Gießen und Marburg Georg-Voigt-Str. 3, 35039 Marburg Foto: privat
zm113 Nr. 17, 01.09.2023, (1444) 22 | TITEL Diese visuelle Rückmeldung macht Mundhygienezustände greifbarer und eindrücklicher als dies mit klinischen Plaqueindizes bisher möglich war. Jeder Intraoralscan kann in einem individuellen Mundhygienearchiv gespeichert werden, was einen permanenten Zugriff auf die individuelle Mundhygienehistorie ermöglicht. Mundhygieneentwicklungen können so besser beobachtet und Stagnationen oder Verschlechterungen frühzeitig erkannt werden. Mithilfe des Intraoralscans ist es leichter möglich, geeignete Maßnahmen zur Re-Motivation zu ergreifen. Klinische Erfahrungen – mehr Plaque als vermutet Bei den ersten Auswertungen der Intraoralscans unserer Patienten stellten wir fest, dass auch bei kariesfreien jungen Erwachsenen häufig relativ viel Plaque auf den Zahnoberflächen vorhanden ist. Diese Beobachtung weist darauf hin, dass viel Plaque in diesem jungen Alter nicht unbedingt zu viel Karies führen muss. Möglicherweise wirken heute andere Faktoren wie die regelmäßige Fluoridapplikation oder die zahnbewusste Ernährung ausreichend kompensierend. Dennoch sollte dieser Befund nicht ohne den frühzeitigen Versuch einer Korrektur der häuslichen Mundhygiene hingenommen werden, da die Begleiterscheinungen des Alterns bereits im mittleren Erwachsenenalter Risikofaktoren bilden, die die Ökologie der Mundhöhle aus dem Gleichgewicht bringen können. So liegt die Prävalenz von moderaten Parodontitiden bereits bei den 35- bis 45-Jährigen bei 45 Prozent. Bei den 65- bis 74-Jährigen sind 40,6 Prozent sogar von schwerer Parodontitis betroffen [Jordan und Micheelis, 2016]. Damit steigt auch die Prävalenz von Gingivarezessionen, wodurch freiliegendes Wurzeldentin in Kombination mit schlechter Mundhygiene (Abbildung 2) zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Wurzelkaries führt. Darüber hinaus können im Alter eine vermehrte Medikamenteneinnahme, Mundtrockenheit, Zahnprothesen, aber auch Gebrechlichkeit Risikofaktoren für die Mundgesundheit darstellen und Veränderungen des Seh- und Tastsinns sowie der kognitiven und motorischen Fähigkeiten die Durchführung einer effektiven Mundhygiene erschweren [Tonetti et al., 2017]. Hinzu kommt die altersbedingte Abnahme der Geschmackswahrnehmung, die häufig zu einer Vorliebe für süße und zuckerhaltige Speisen führt [Ogawa et al., 2017]. Auch die Kaukraft lässt im Alter nach, was in der Regel zu einer Präferenz für weiche und kohlenhydratreiche Nahrung führt [Tonetti et al., 2017]. Eine verminderte Flüssigkeitsaufnahme führt zusätzlich zu einer Abnahme der Speichelproduktion und damit zu einer Verminderung der protektiven Eigenschaften des Speichels [Barbe, 2018]. Mundhygiene – bukkale Flächen besser putzen Es erscheint deshalb im Sinne primärpräventiver Maßnahmen von zentraler Bedeutung, die Fähigkeit zur möglichst optimalen Plaquereduktion durch die tägliche häusliche Mundhygiene nicht erst im Alter, sondern bereits in jungen Jahren zu erlernen. Dabei sollte die individuelle Plaqueverteilung möglicherweise mehr als bisher berücksichtigt werden. Unsere ersten Beobachtungen mit dem Intraoralscanner zeigen, dass die Plaqueverteilung und -entwicklung offenbar einem überindividuell typischen Muster folgt. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass im Oberkiefer im Bereich der bukkalen Flächen der Molaren und zweiten Prämolaren die größte Plaquebedeckung zu finden ist. Darüber hinaus sind sowohl im Oberals auch im Unterkiefer die distalen Bereiche der bukkalen Flächen am stärksten mit Plaque bedeckt, während die mesialen Bereiche der bukkalen Glattflächen gut gereinigt werden können [Giese-Kraft et al., 2022]. Im Gegensatz dazu weisen die oralen Flächen der Zähne des Ober- und des Unterkiefers eher weniger Plaque auf, die sich vor allem am Gingivarand etabliert. Wird die Mundhygiene für 72 Stunden unterbrochen, ist die Plaquezunahme an den bukkalen Flächen der Oberkiefermolaren am deutlichsten ausgeprägt, während an den oralen Flächen nahezu keine Veränderungen durch die UnterAbb. 2: Intraoralscan eines älteren Patienten: A: erster Quadrant im Vordergrund; B: zweiter Quadrant im Vordergrund: Die Wurzeloberflächen sind im Bereich der Molaren und Prämolaren bukkal und im Bereich der Molaren oral exponiert. Das freiliegende Wurzeldentin führt in Kombination mit der unzureichenden Mundhygiene zu einem erhöhten Risiko für Wurzelkaries, insbesondere interdental. Mit dem Intraoralscan können diese Bereiche besonders gut visualisiert werden. Das erleichtert die entsprechende Instruktion zur täglichen Mundhygiene und die Aufklärung über das erhöhte Wurzelkariesrisiko in diesen Bereichen. Foto: Katja Jung ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden.
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