Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm 108, Nr. 10, 16.5.2018, (1048) etwa resümierte, den Aussagegehalt von RCTs zur Behandlung von Klasse-II-Anomalien betreffend: „Wenn man fragt, ob RCTs ihr angestrebtes Ziel erreicht haben oder ob sie Erkenntnisse geliefert haben, die nicht bereits aus retrospektiven Studien oder Tier- versuchen vorlagen, müsste die Antwort Nein lauten.“ Diese Aussage wiegt umso schwerer, wenn man bedenkt, dass zu keinem Thema der Kieferorthopädie mehr RCTs verfügbar sind als zu Klasse-II- Anomalien. Zur Beantwortung der Frage, warum RCTs häufig an wesentlichen klinischen Frage- stellungen der Kieferorthopädie scheitern, müssen wir uns ihren eigentlichen Zweck vor Augen führen: nämlich zu prüfen, ob eine Behandlung funktioniert, und zwar im Vergleich zu einem Kontrollzustand. Dieser kann in keiner, in einer alternativen oder in einer Placebo-Behandlung bestehen. Und da die Kieferorthopädie von Apparaturen bestimmt wird, liegt genau hier das Problem! Denn „kieferorthopädische Behandlungen gestalten sich nicht als sequenzielle Pillen- einnahme, die man randomisiert durch- führen und verblindet auswerten könnte“ [Johnston, 2002]. Im Gegenteil: Selbst „un- sichtbare“ Apparaturen sind für den Patienten sichtbar, jedenfalls aber wahrnehmbar. Also scheiden, wenigstens für die meisten Frage- stellungen, Placebo-Behandlungen schon einmal aus. Natürlich besteht immer die Alternative einer RCT mit einer unbehandelten Kontroll- gruppe. Selbst wenn wir jedoch ethische Bedenken einmal ausklammern, wollen mir nur wenige klassische Fragestellungen der klinischen Kieferorthopädie einfallen, die ein solches Studienkonzept rechtfertigen wür- den. Dies umso mehr, wenn wir realistisch bleiben und nicht die jahrzehntelangen klinischen Erfahrungen ignorieren, über die wir in der Kieferorthopädie verfügen. Hierzu gehört, dass wir unbehandelte Kontroll- gruppen nicht bedingungslos auch in lächer- lichen Szenarien fordern, in denen eine klinisch relevante, stichhaltige Wahrheits- findung auch ohne Kontrollgruppe gut möglich ist. Ein Beispiel dafür wäre die Aus- sage, dass sich starke Bissanomalien wie etwa eine Frontzahnstufe > 9mm nicht von selbst korrigieren, dazu braucht es schlicht keine Beweisführung auf Evidenzstufe I. Systematische Fehler von RCTs Zusammenfassend sind also Vergleiche zwischen unterschiedlichen Behandlungs- formen die einzige Forschungsmethode auf RCT-Niveau, die uns in der Kieferorthopädie bleibt. Solche RCTs sind zweifellos machbar, aber sind sie auch immer sinnvoll? Der Erfolg kieferorthopädischer Behandlun- gen hängt immer in gewissem Maße von der Kooperation der Patienten ab, weshalb Verzerrungseffekte wie die „aktive Forschungs- beteiligung“ hier sehr stark zum Tragen kommen. Schon die Tatsache, dass von jedem RCT-Teilnehmer eine Einwilligungs- erklärung nach erfolgter Aufklärung obliga- torisch ist (also die Forderung nach informed consent oder informierter Einwilligung), kann das Ansprechen auf die Therapie in einem klinisch möglicherweise höchst relevanten Maß beeinflussen. Bergmann et al. [Berg- mann et al., 1994] starteten 1994, kurz vor Inkrafttreten dieser Aufklärungspflicht in Frankreich, eine RCT zum Einfluss der infor- mierten Einwilligung auf die Wirkung von Analgetika. 49 konsekutiv hospitalisierte Patienten mit leichten bis mittelstarken Tu- morschmerzen wurden nach dem Zufalls- prinzip über ihre Teilnahme an der RCT ent- weder informiert oder nicht informiert. Im zweiten Schritt erfolgte, wieder per Los, die Zuteilung aller Patienten zu den Behand- lungsgruppen Analgetikum (Naproxen) oder Placebo. Die Resultate (Abbildung 1) zur Schmerzlinderung erbrachten in der nicht informierten Normalfallgruppe erwartungs- gemäß eine Wirkung des Analgetikums, nicht aber des Placebo. Mit dem Umstand der Aufklärung veränderte sich dieses Bild massiv: Das Placebo wie auch das Analgeti- kum reduzierten die Tumorschmerzen unter den informierten Patienten signifikant stärker und nachhaltiger als unter den normalen klinischen Bedingungen. Abbildung 1: Ergebnisse eines RCT zum Einfluss der informierten Einwilligung von Patienten auf die Wirkung von Analgetika Quelle: Nach: Bergmann et al. [1994]: A randomised clinical trial of the effect of informed consent on the analgesic activity of placebo and naproxen in cancer pain. Clinical Trials and Metaanalysis, 29, 41–47. 24 Politik

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