Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 17

zm 108, Nr. 17, 1.9.2018, (1913) Im Rahmen der Entscheidungsfindung für oder gegen eine Therapiemaßnahme stellt die Indikation ein wesentliches Kriterium dar. Nur durch eine begründete Indikations- stellung lässt sich professionelles zahnärzt- liches Handeln rechtfertigen. Daher soll zuerst betrachtet werden, welche der vor- geschlagenen Behandlungsmaßnahmen grundsätzlich angezeigt und gerechtfertigt wären. Zweifellos besteht ein Befund (Se- kundärkaries, Randspalten, Füllungsfraktur) an den Zähnen 25 und 26, der therapiert werden muss. Sowohl mit der von Dr. M. geplanten Überkronung als auch durch die von B. favorisierten weniger invasiven Fül- lungen wird das Therapieziel erreicht. Aller- dings überwiegen bei der Kronentherapie die Risiken (Präparationstrauma) und Nach- teile (höhere Kosten) für die Patientin P. Die Füllungstherapie verursacht geringere Kosten und geht mit einem geringeren Ver- lust gesunder Zahnhartsubstanz einher. Da keine weiteren Faktoren wie Bruxismus, schlechte Mundhygiene oder Allergien vor- zuliegen scheinen, die eine Kontraindikation für die Füllungstherapie darstellen, ist diese aus zahnmedizinischer Sicht primär indi- ziert. Für die Indikationsstellung reicht es nicht, nur die zahnmedizinischen Fakten zu beurteilen, es müssen zusätzlich auch die Präferenzen und individuelle Faktoren der Patientin berücksichtigt werden. In dem vorliegenden Fall ist dies nicht geschehen. Für die weitere Bewertung ist es sinnvoll, das bewährte Modell der Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress anzuwenden, um zu einer begründeten, ethisch verantwort- lichen Entscheidung zu kommen. Respekt vor der Patientenautonomie (Selbst- bestimmungsrecht): Grundvoraussetzung für jede Behandlung ist die Zustimmung des Patienten zu der geplanten Therapie. Eine valide Zustim- mung, die der Respektierung der Patienten- autonomie entspricht, kann nur erfolgen, wenn zuvor eine entsprechende Aufklärung im Rahmen des „Informed Consent“ durch- geführt wird. Der Informed Consent stellt in der Terminologie der Prinzipienethik eine Spezifizierung des Respekts vor der Patienten- autonomie dar. Eine adäquate Aufklärung muss wesentliche Informationen beinhalten (Befund, Diagnose, Vorgehen beziehungs- weise Art des Eingriffs, Nutzen, Risiken, Alternativen und Kosten). Dr. M. hat die Patientin nur über die Kronentherapie infor- miert und ihr daher nicht die Möglichkeit gegeben, sich für eine Alternative zu ent- scheiden. Dieses Vorgehen widerspricht dem „Respekt vor der Patientenautonomie“. Rechtlich bedeutet dies, dass die Einwilli- gung unwirksam ist. Damit besteht zivil- rechtlich kein Behandlungsvertrag und es drohen möglicherweise gar strafrechtliche Konsequenzen. Non-Malefizienz (Nichtschadensprinzip): Die Risiken (Präparationstrauma, Verlust gesunder Zahnhartsubstanz) und die Kos- ten sind bei der Füllungstherapie deutlich geringer als bei der Kronentherapie, daher ist es sehr wahrscheinlich, dass sich die Patientin, wenn sie über diese relevanten Informationen verfügt, für die Füllungs- Kommentar 1 „Die Zahnheilkunde ist kein Gewerbe“ Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei konkur- rierenden, nicht miteinander zu vereinba- renden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instrumenten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzep- tionen (wie die Tugendethik, die Pflichten- ethik, der Konsequentialismus oder die Für- sorge-Ethik) sind jedoch stark theoretisch hinterlegt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben. Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzipien- ethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Über- zeugungen als allgemein gültige ethisch- moralische Eckpunkte angesehen werden können, bewertet und gegeneinander ab- gewogen. Drei dieser Prinzipien – die Patientenauto- nomie, das Nichtschadensgebot (Non-Ma- lefizienz) und das Wohltunsgebot (Benefi- zienz) – fokussieren ausschließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Ge- rechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personen- gruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht. Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbind- liche Lösung, sondern vielfach können differierende Bewertungen und Hand- lungen resultieren. Die Prinzipienethik er- möglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Gesamt- beurteilungen und Entscheidungen. Des- halb werden bei klinisch-ethischen Fall- diskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommentatoren zu Wort kommen. Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth Die Prinzipienethik Experten präsentieren Fälle mit ethischem Klärungsbedarf. 73

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