Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 18

zm 109, Nr. 18, 16.9.2019, (2023) Die praktische Umsetzung der Behand- lungsmaßnahmen im Rahmen der Koopera- tionsvertragstätigkeit wie auch der zahn- ärztlichen Betreuung pflegebedürftiger Menschen insgesamt hängt von vielen Faktoren ab. So können außerhalb der Pra- xis selbst mit großem apparativem Aufwand einige typische zahnärztliche Therapie- maßnahmen aufgrund der eingeschränkten Kooperationsfähigkeit mitunter nicht sinn- voll erfolgen. Sogar in der Praxis zwingen uns die Multimorbidität und die reduzierte Belastbarkeit einiger Patienten, mehr Kom- promisse als sonst bei der Therapie einzu- gehen. Wie belastbar ist der Patient? Zur Orientierung in Bezug auf Art und Umfang der Behandlung hat sich die „zahn- medizinische funktionelle Kapazität“ be- währt [Nitschke, 1996]. Aus den Kriterien Therapiefähigkeit, Mundhygienefähigkeit und Eigenverantwortlichkeit ergibt sich für jeden Patienten eine sogenannte Belast- barkeitsstufe (Abbildung 1). Diese kann unter anderem hilfreich sein, im Gespräch mit Patienten, gesetzlichen Vertretern oder Angehörigen, die Therapieoptionen abzu- wägen. Die Klärung der zahnärztlichen Betreuung (Versorgungsdiagnose) sowie die Fragen zur Durchführung der täglichen Mundhygiene (Nachsorgekompetenz) wer- den hier ebenfalls einbezogen. Abgeleitet von den Belastbarkeitsstufen ist beispiels- weise die „Entscheidungshilfe mobile Pro- thetik“ ein nützliches Praxistool, das die Pra- xis Bleiel aus Rheinbreitenbach entwickelt hat [Bleiel, 2012] (Abbildung 2). Ein motiviertes und wohlwollendes Umfeld (Betreuer, Angehörige, Pflegekräfte) sowie das Wissen um die komplexen Aspekte der Polymedikation, der rechtlichen Fragen, des Zugangs und Umgangs in der Behand- lung von Menschen mit Demenz, der Lage- rung mobilitätseingeschränkter Menschen, der Aspirationsgefahr und ergonomischer Arbeitsmethoden helfen, die Herausforde- rungen besser zu meistern. Trotzdem ist die Behandlung gebrechlicher Menschen mit größeren Risiken verbunden. Im ersten Teil dieses Beitrags wurde bereits ausführlich darauf hingewiesen. Vor allem komplexe beziehungsweise invasive Behandlungen außerhalb der Praxis, also unter kompromit- tierten Umgebungsbedingungen, müssen bei diesen Hochrisikopatienten kritisch abgewogen werden (Hygienemanagement, Notfallmanagement). Der Wunsch des Patienten steht im Mittelpunkt! Bei allen Bemühungen stehen der betroffene Patient und sein Wunsch im Mittelpunkt. Es kommt immer wieder vor, dass Pflegekräfte, gesetzliche Vertreter oder Angehörige Pro- bleme ansprechen und Wünsche äußern – das ist auch gut so. Aber egal, ob uns bei den Kontroll-Untersuchungen ein Behandlungs- bedarf auffällt oder ob wir gerufen werden, weil anderen etwas aufgefallen ist – zunächst machen wir uns selbst ein Bild vor Ort, um – soweit möglich – den Wunsch des Patienten Zahnmedizinische funktionelle Kapazität & Belastbarkeitsstufen Belastbarkeitsstufe (BS) Kriterien zur Beurteilung der zahnmedizinischen funktionellen Kapazität BS 1 BS 2 BS 3 BS 4 Quellen: Nitschke, Hopfenmüller: Die zahnmedizinische Versorgung älterer Menschen. Die Berliner Altersstudie. Berlin: Akademie Verlag, 1996; Nitschke, Kunze, Hopfenmüller, Reiber: Die zahnmedizinische funktionelle Kapazität – ein Instrument in der Gerostomatologie. Quintessenz 63 (2012), 2: 207–210. Therapiefähigkeit Risiko Zwischenfall? Risiko Medikamente? Transport/Transfer/Lagerung? Kommunikation? Diagnostik? Mundöffnung? Adaptation? normal leicht reduziert stark reduziert keine Mundhygienefähigkeit Lernfähigkeit? Umsetzungsfähigkeit? Sehfähigkeit? Greiffähigkeit/Putzkraft? Ausspucken/Aspiration? Hilfe/Überwachung? Mundhygieneartikel? normal leicht reduziert stark reduziert keine Eigenverantwortlichkeit Besuche kontrollorientiert? Problembewusstsein? Willensäußerung? Entscheidungsfähigkeit? Organisation/Koordination? Verantwortung? Nachsorge? normal leicht reduziert stark reduziert keine Abbildung 1: Zahnmedizinische funktionelle Kapazität und Belastbarkeitsstufen – hilfreich für die Orientierung bezüglich Art und Umfang der Behandlung 85

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