Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm 111, Nr. 10, 16.5.2021, (950) ziemlich Angst!)“ Trotz Anästhesie ist er nicht für eine Weiterbehandlung – hier hätte ich eine Extraktion durch- führen müssen – zu gewinnen. Oder die süße Ayla aus Afghanistan, 17 Jahre, die mit ihrer Strick-Beanie- Mütze, dem übergroßen Hoodie, einer Löcher-am-Knie-Jeans und weißen Sneakern aussieht wie eine „Street Style New York“-Bloggerin, und mich anstrahlt, als ich ihr das sage. Die Kleiderkammer des UNHCR am Camp- Eingang macht‘s möglich. Oder Marian, auch aus Afghanistan, schwanger und in Begleitung eines etwa zehnjähri- gen Mädchens. Sie wirkt wie etwa 30 und wie die Mutter des Mädchens, aber in Wahrheit ist sie erst 19 Jahre und hat ihre Schwester an der Seite. Überhaupt sehen die allermeisten meiner Patientinnen und Patienten zehn Jahre älter aus, als sie sind. Und ich – selbst Mutter von vier Kindern in dieser Altersgruppe – denke mir, was für ein Schmerz muss es für die Eltern gewesen sein, diese Söhne und Töchter ziehen zu lassen in der Hoff- nung auf ein besseres Leben. Yasmin, meine Assistentin, erzählt mir, sie wäre nicht gekommen, wenn sie gewusst hätte, was sie auf euro- päischem Boden erwartet. Damit meint sie das würdelose Bitten um Asyl, das ewige Anstehen für Essen, für Geld, für juristische Beratung, für medizinische Versorgung, für Kleidung oder für einen Coupon für die viel zu wenigen warmen Duschen und für den einmal pro Woche mög- lichen Ausgang aus dem Lager. ZURÜCK? DAS GEHT NICHT MEHR! Aber, sagt Yasmin, „zurück, das geht nicht mehr“! Auch, wenn sie zu denen gehört, die ihren Eltern berichten, wie es wirklich ist. Und nicht zu denen, die vor den bunten Häusern von Mytilene Selfies machen und ihren Müttern schreiben, dass sie in diesen Häusern wohnen und es ihnen gut gehe – wie es manche tun. Yasmins Mutter hat ihr gesagt, komm zurück. Aber die junge Frau erklärt mir, sie wisse nun, wie es ist, eine freie, selbstbestimmte Frau zu sein. Sie möchte Hebamme werden und arbeiten. Im Iran winken ihr die Verheiratung und die Herrschaft eines Ehemanns, keine Aussicht auf Reise- und Entscheidungsfreiheit. Jeder hier hat seine Geschichte. Kei- ner ist nur „ein Geflüchteter“. Jeder ist Sohn, Schwester, Bruder oder Mut- ter oder Vater. Die Jüngeren sind oft allein. Aber alle teilen eine Hoffnung: „Wenn ich erstmal nicht mehr im Camp bin und mein Asylantrag ge- nehmigt ist, wird alles gut.“ Was mich am meisten betrübt vor Ort, ist die Perspektivlosigkeit. Viele von ihnen kommen ohne Dokumente, ohne Ausbildungsnachweise und so- mit ohne Identität. Die Schlepper, sa- gen sie, nehmen ihnen die Ausweise ab. Der Weg der Anerkennung ist mühsam. Man muss einen langen Atem haben, um die Zuversicht nicht zu verlieren. Meine Zeit vergeht rasend schnell und mein temporärer Arbeitsplatz bleibt mir als laut, die Material- und Instrumentenauswahl als unge- wohnt, die Arbeitshaltung als nicht ergonomisch in Erinnerung. Schwere Erkrankungen sind häufiger, als ich es aus meiner Praxis kenne. Die Menschen aber sind wie wir – zu- nächst ängstlich, dann vertrauensvoll und schließlich dankbar. Ich habe das getan, was ich auch zu Hause mache, nämlich meinen Beruf, der der schönste ist, den ich mir vor- stellen kann, ausgeübt. Jetzt schon vermisse ich mein Team dort. Aber wahrscheinlich werden sie, sollte ich wiederkommen, nicht mehr da sein – und das wünsche ich ihnen von Herzen! \ DR. GRETEL EVERS-LANG Zahnärzte Dr. Lang, Dr. Evers-Lang, Gemeinschaftspraxis für Zahnmedizin, Prohylaxe und Kieferorthopädie Welzheimer Str. 19D, 63791 Karlstein und Wilhelmstr. 12, 63538 Großkrotzenburg praxis.lang@t-online.de Foto: privat Hier bin ich mit meinem Team zu sehen. Links der „unerschrockene Chirurg“ Dr. Dr. Jens Joachim Paarsch. Das Team besteht zum Großteil aus Geflüchteten, die eine zahnmedizinische Ausbildung haben. Alle Fotos: Crisis Management Association/Evers-Lang 80 | GESELLSCHAFT

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