Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 8

zm112, Nr. 8, 16.4.2022, (773) ‚ Maßlose‘. Der Überschuss wird (sic!) im späteren Leben zu ‚ Abbau‘ im Geistigen und zur ‚ Verhärtung‘ im Gewebe führen“ (Tabelle) [DorsciUlrich, 2018]. Auch hier fehlt jeglicher Ansatz, solche Wertungen und Prognosen mit dem Instrumentarium ergebnisoffener Forschung zu überprüfen. Vielmehr erscheint die Behauptung als metaphysisch postulierte Wahrheit, die – einmal in die Welt gekommen – sich keinerlei Kritik mehr stellen muss. Mit Zuordnungen von bestimmten Körpermerkmalen und Charaktereigenschaften zu „Menschentypen“ – gespeist nicht aus empirischer Forschung, sondern aus einer vorgeblich „einzigartigen Betrachtung des Einzelmenschen“ – wird ethisch bedenklicher Boden betreten. Für die betroffenen Menschen, die ihren homöopathischen Behandlern stark vertrauen, besteht dadurch ein beträchtliches Gefahrenpotenzial. Patienten (beziehungsweise deren Eltern oder Angehörige) können in den Glauben geraten, durch bestimmte körperliche Merkmale sei ein schicksalhafter, nur schwer veränderbarer Lebensweg vorgezeichnet. Das bietet reichlich Raum für Nocebo-Effekte und sonstige Beeinflussungen, zum Beispiel fragwürdige Therapiewege einzuschlagen. Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich, ob Ratschläge, man solle zumindest die bei vordergründiger Betrachtung als „positiv“ angesehenen Aspekte der Homöopathie (Anschein von „Verständnis, Zuwendung und Aufklärung“) übernehmen [Stöhr, 2001], überhaupt zum Wohl des Patienten umsetzbar sind. Gleichwohl war und ist gerade diese Art der „einzigartigen Betrachtung des Einzelmenschen“ für den Gesetzgeber in Deutschland offenbar so überzeugend, dass er bei der Zulassung von homöopathischen Arzneimitteln auf Wirksamkeitsnachweise, wie sie ansonsten gefordert werden, verzichtet(e). Die gesetzlichen Krankenkassen preisen sogar in Werbekampagnen die Aufnahme der Homöopathie in den durch die Solidargemeinschaft zu entrichtenden Kassenleistungskatalog an. Diese Entwicklung wird heute kritischer als früher gesehen [zm, 2022a]. BEISPIEL BIOENERGETISCHE VERFAHREN In der Zahnmedizin steht die oben beschriebene Homöopathie zwar nicht im Fokus, deren Weltbild kann aber als eine Art Einstieg in die alternativmedizinische Szene dienen. Sie kann dazu beitragen, sich weiteren alternativmedizinischen Modellen zu nähern, die ihrerseits für die Mundgesundheit gefährlich werden können, wenn sie beispielsweise zu drastischen invasiven Eingriffen mit irreversiblen Schäden motivieren. So gibt es Behandler, die auf der Grundlage sogenannter bioenergetischer Testmethoden (beispielsweise Muskeltests mit „Applied Kinesiology“) invasive Eingriffe wie Entfernungen intakter zahnärztlicher Versorgungen oder Zahnextraktionen (zuweilen sogar Serienextraktionen) vornehmen, unabhängig davon, ob die Versorgungen beziehungsweise Zähne nach aktuellem wissenschaftlichem Erkenntnisstand erhaltungswürdig sind oder nicht. Zahnärzte fräsen im Anschluss an Zahnextraktionen die Kieferknochen zur Beseitigung von vermeintlichen „Störfeldern“ aus und richten dabei erhebliche Schäden an (Abbildung 1). Eine eigene Studie aus dem Jahr 2005 konnte zeigen, dass die Reliabilität (Reproduzierbarkeit) kinesiologischer Testungen nicht über die Würfelwahrscheinlichkeit hinausreicht [Staehle et al., 2005; Staehle, 2006a und b]. Auch ein Übersichtsartikel von 2008 konnte keine Beweise für die diagnostische Genauigkeit, Aussagekraft der Muskelreaktion und therapeutische Wirksamkeit der Kinesiologie liefern [Hall et al., 2008]. Es existieren bislang keine neueren Studien, die unter Berücksichtigung aktueller qualitativer und ethischer Standards vorgenommen wurden und eine Rechtfertigung von Restaurationsentfernungen, Zahnextraktionen, Knochenausfräsungen und ähnlichem auf der Grundlage bioenergetischer Tests erlauben würden. Zuweilen postulieren manche Zahnärzte besondere „Störfelder“ im Kieferknochen, die als „NICO’s“ (Neuralgia Inducing Cavitational Ostenecrosis) bezeichnet werden und die unter anderem die argumentative Grundlage für Extraktionen, Knochenausfräsungen und andere invasive Eingriffe bilden. Das Symptomenbild der postulierten Erkrankung ist außerordentlich variabel. Es umfasst verschiedenste körperliche und psychische Missempfindungen. Eine Übersichtsarbeit dazu aus dem Jahr 2021 ergab, dass die wissenschaftliche Evidenz bezüglich Ätiologie, Diagnose und Behandlung von „NICO“ schlecht ist und der Nutzen invasiver therapeutischer Verfahren deshalb nicht bewertet werden kann [Sekundo et al., 2021]. Schon 2012 hatte eine zahnmedizinische Fachgesellschaft (American Association of Endodontists) invasive Interventionen (beispielsweise die Empfehlung einer Extraktion endodontisch beQuelle: Staehle c: Klinischer Befund nach der Extraktion und Kieferknochenausfräsung in regio 025, 026 und 028 [Staehle, 2006]. Bei dem Patienten wurde später eine neurologische Erkrankung diagnostiziert, deren Behandlung nach aktuellem wissenschaftlichem Erkenntnisstand das Beschwerdebild entscheidend und dauerhaft besserte. Der Patient ist inzwischen 59 Jahre alt und wird seit 22 Jahren zahnärztlich nachuntersucht, ohne dass sich Hinweise auf „energetische Belastungen“ oder ähnliches ergeben hätten. c ZAHNMEDIZIN | 71

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