Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm112, Nr. 10, 16.5.2022, (973) (bei Kindern 50 mg/kg) das Medikament der ersten Wahl dar; als Alternative kommen in dieser Situation Cefazolin oder Ceftriaxon 1 g i. v. (bei Kindern 50 mg/kg) infrage. Im Fall einer Penicillinallergie stehen zur parenteralen Applikation Clindamycin 600 mg (bei Kindern 20 mg/kg), Cefazolin oder Ceftriaxon 1 g i. v. (bei Kindern 50 mg/kg) zur Verfügung. Cephalosporine sollten allerdings generell nicht gegeben werden, wenn zuvor bereits einmal eine Anaphylaxie, ein Angioödem oder Urtikaria nach Penicillingabe/Ampicillingabe beobachtet wurde. ZUM WISSENSCHAFTLICHEN DISKURS Trotz der zahlreichen Analysen aus der Versorgungssituation vor und nach 2007 zeichnet sich weiterhin keine einheitliche Bewertung zur Notwendigkeit der Endokarditisprophylaxe ab. Auch die Kontroverse, ob die grundlegenden Änderungen der Jahre 2007/2008 Auswirkungen hatten oder nicht [van den Brink et al., 2019; Charitos & Sinning, 2019], bleibt – trotz gravierender Unterschiede in der Entwicklung verschiedener Länder – ungelöst. Obwohl in den USA die Zahl der Neuerkrankungen auch nach 2007 weiter sinkt, ergeben sich dort bereits Unsicherheiten aus der Erkenntnis, dass sich der Rückgang verlangsamt hat. Die diametral entgegengesetzte Entwicklung in Großbritannien mit einer erheblichen Zunahme der Neuerkrankungen um rund 60 Prozent seit 2008 wird andererseits durch die Vertreter des NICE nicht als Hinweis auf eine Unterbehandlung durch den Wegfall der Endokarditisprophylaxe gewertet, sondern als Ausdruck einer insgesamt erhöhten Suszeptibilität für Endokarditiden in der alternden Bevölkerung mit kardiovaskulären Risiken angesehen. Auch wenn die Gefahr schwerer und insbesondere letaler individueller Komplikationen der Endokarditisprophylaxe nach den oben genannten Analysen sicher nicht mehr relevant ist, bleibt naturgemäß bei jeder prophylaktischen Antibiotikaindikation die Frage nach den eventuellen Auswirkungen auf die Resistenzentwicklung in der Gesamtheit einer Population. Hier hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass entgegen früherer Annahmen auch bereits die einmalige Gabe eines Antibiotikums zu genetischen Veränderungen im Mikrobiom des Darmes führen kann [Zaura & Brandt, 2015]. Andererseits muss hinterfragt werden, ob die Endokarditisprophylaxe mit einem extrem kleinen, im Promillebereich gelegenen Anteil an allen humanen Antibiotika-Anwendungen allein schon aufgrund der Seltenheit einen relevanten Einfluss auf die globale Resistenzentwicklung nehmen kann. Ein wichtiger Aspekt in der Abwägung von Nutzen und Risiken der Endokarditisprophylaxe ist die sogenannte „Number needed to treat (NNT)“, das heißt die Zahl der Patienten, die prophylaktisch antibiotisch behandelt werden müssen, um jeweils eine Infektion zu vermeiden. Hier haben sich anhand der Registerstudien aus dem NHS in den vergangenen Jahren wesentliche Neubewertungen ergeben. Während Modellrechnungen früher zu Schätzungen einer NNT für die Endokarditisprophylaxe in einem Bereich von 100.000 bis 1.000.000 führten [Farbod et al., 2007] und damit wesentlich zu der kritischen Bewertung einer Prophylaxe beitrugen, führte die Auswertung der Ereigniszahlen aus dem Vereinigten Königreich zu einer NNT von 277 (95 Prozent-Konfidenzintervall: 156–1217). Danach wären bereits weniger als 300 prophylaktische Gaben eines Antibiotikums geeignet, einen Endokarditisfall zu vermeiden [Dayer et al., 2015]. Aufgrund der hohen Mortalität und der hohen Behandlungskosten ist darüber hinaus bereits die Verhinderung weniger Ereignisse kosteneffektiv. Für das NHS wurde beispielsweise die Kosteneffektivität einer Wiedereinführung der Endokarditisprophylaxe konkret überprüft und bestätigt [Franklin et al., 2016]. SCHLUSSFOLGERUNG FÜR DIE PRAXIS Auch wenn sich die Charakteristik der Endokarditis von einer Erkrankung junger Menschen mit rheumatischen Herzklappenschädigungen oder angeborenen Herzfehlern immer weiter hin zu einer Erkrankung kardiovaskulär erkrankter älterer Menschen (oft mit implantierten Geräten) verändert, hat die Erkrankung nicht an Schrecken verloren und die ungünstige Prognose hat sich kaum verändert. Die um die Jahrtausendwende stark propagierten Kritikpunkte (geringe Effizienz) und Gefahren (Anaphylaxie nach Antibiotikagabe) haben einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten können. Mit einer NNT von unter 300 ist die Antibiotikaprophylaxe der Endokarditis wirksam und selbst unter ökonomischer Betrachtung der KostenNutzen-Relation effizient. Relevante Komplikationen der Antibiotikaprophylaxe mit Amoxycillin ließen sich in umfangreichen Registerstudien über Jahrzehnte nicht verifizieren. Die in 2007 aktualisierten LeitlinienEmpfehlungen der AHA und deren Adaptationen haben sich über mehr als ein Jahrzehnt als zuverlässig erwiesen, während die alternative Strategie des Aussetzens der Prophylaxe im britischen Gesundheitswesen mit einem signifikanten und nachhaltigen Anstieg der EndokarditisInzidenz verbunden war. Vor diesem Hintergrund sollte die EndokarditisProphylaxe in der zahnärztlichen Behandlung fortgeführt werden. \ Der Beitrag ist eine für die zm erweiterte Fassung des vom Autor verfassten Kapitels „Endokarditisprophylaxe“ aus dem Buch „Antibiotika in der Zahnmedizin“ von Bilal Al-Nawas, Peter Eickholz und Michael Hülsmann. 1. Auflage 2021, Quintessence Publishing Deutschland ISBN: 978–3–86867–552–8 www.quint.link/antibiotika ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. ZAHNMEDIZIN | 55

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