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107, Nr. 1, 1.1.2017, (60)
Die systematische Erforschung der im Natio-
nalsozialismus begangenen Medizinverbre-
chen setzte erst gegen Ende des 20. Jahrhun-
derts ein. Zunächst fühlten sich die Schüler
ihren Lehrern oder Vorbildern verpflichtet –
ein Verschweigen, das auch den Bedürfnis-
sen der bundesdeutschen Nachkriegsgesell-
schaft entsprach. Mit dem Abstand der
dritten oder vierten Generation ist nunmehr
eine unaufgeregte Auseinandersetzung mit
den Ereignissen und Personen dieser Zeit
möglich. Dabei geht es nicht nur um reines
Faktenwissen und Transparenz, sondern
auch um die Bereitschaft zur kritischen
Betrachtung und Erinnerung: Wie weit
waren die Leib- und Begleitärzte an den
Verbrechen des NS-Regimes beteiligt, wie
haben sie ihre unmittelbare Nähe zur Macht
genutzt? Sind über 1945 hinaus Kontinuitä-
ten auszumachen? Gab es Selbstkritik? Wie
werden NS-Mediziner heute rezipiert?
Nicht in allen Fällen ist eine stringente NS-
Laufbahn auszumachen. Auch der Zufall
konnte eine Rolle spielen, um in eine heraus-
ragende Position zu gelangen. Allerdings
stammten die entsprechenden Ärzte über-
wiegend dem bürgerlich-akademischen
Milieu, in dem „völkisches“, antisemitisches
und anti-demokratisches Gedankengut vor-
herrschte, und hatten sich zumeist schon
früh der NS-Weltanschauung zugewandt.
Diese Nähe zum Nationalsozialismus, und ih-
rer Führung machte die Zufälle erst möglich.
Zudem wurden besonders den Jüngeren der
um 1900 Geborenen vielfache Karrieremög-
lichkeiten geboten – und im Streben nach
Macht und wissenschaftlicher Reputation
übertraten sie ethische Grenzen. So griffen
sie für ihre Experimente auf die KZ-Insassen
zurück. Über die moralische Verwerflichkeit
hinaus brachten die Menschenversuche in
den KZs keine medizinischen Erkenntnisse
und der Großteil der Versuchsdesigns hielt
wissenschaftlichen Kriterien nicht stand.
Während sich einige NS-Ärzte bei Kriegsende
durch Suizid ihrer Verantwortung entzogen
und nur wenige durch alliierte Gerichte ver-
urteilt wurden, gelang es erstaunlich vielen,
die Nachkriegszeit glimpflich zu überstehen,
in Entnazifizierungsverfahren als Mitläufer
entlastet zu werden und in ihrem alten Beruf
weiter zu arbeiten. Zu diesen Personen zählte
Hitlers Dentist Hugo Johannes Blaschke.
Der Doktor ohne Abitur
Blaschke, 1881 im westpreußischen Neu-
stadt geboren, stammte aus einer Handwerk-
erfamilie. Als er ohne Abitur die Höhere Schu-
le verließ und ihm somit die Voraussetzung
für ein zahnmedizinisches Studium an einer
deutschen Universität fehlte, ging er 1908 in
die USA und erwarb 1911 an der University
of Pennsylvania in Philadelphia ein Diplom
sowie den in Deutschland nicht anerkannten
Titel „Doctor of Dental Surgery“ (D.D.S.).
Er kehrte nach Deutschland zurück und fand
eine Stelle in der Berliner Praxis des Hofarztes
Dr. Eugen Wünsche, die er 1915 übernahm.
Den Ersten Weltkrieg erlebte Blaschke nicht
an der Front, sondern als Dentist im Dienst-
grad eines Unteroffiziers in einer Kieferstation.
In seiner Praxis behandelte er ein ausgespro-
chen zahlungskräftiges Klientel und erwarb
sich bald einen ausgezeichneten Ruf bei sei-
nen prominenten Patienten, unter ihnen
auch Hermann Göring. 1931 trat er sowohl
in die NSDAP als auch in die SA ein und galt
später als fanatischer
Nationalsozialist.Inder
paramilitärischen SA stieg der ehemalige
Unteroffizier Blaschke schnell zum Sturm-
bannführer auf, was, wenn auch nicht wirk-
lich vergleichbar, in der Armee dem Offi-
ziersdienstgrad Major oder in der Polizei
einem Kriminalrat entsprach.
1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler
ernannt und die Nationalsozialisten kamen
an die Macht. Ende 1933 behandelte
Blaschke auf Empfehlung Görings, nunmehr
Preußischer Ministerpräsident, erstmals Hit-
ler. Dieser muss mit der Behandlung zufrie-
den gewesen sein, denn Blaschke wurde
fortan dessen „Leibzahnarzt“. Überdies
behandelte er dessen „Hofstaat“ wie auch
Eva Braun. Mehr noch, Blaschke wurde
selbst Teil dieser Entourage, verbrachte zahl-
lose Abende mit Hitler und dessen Kreis aus
Sekretärinnen, Adjutanten und Vertrauten.
Auch die SS wurde auf Blaschke aufmerk-
sam. Ambitioniert trieb der „Reichsführer-
SS“ Heinrich Himmler den Aufbau der SS
voran, verstärkte bewaffnete Formationen
und die „Totenkopf-Verbände“, die Wachen
der Konzentrationslager.
Für die medizinische Versorgung der SS-
Gesamtorganisation war der „Reichsarzt-SS“
Prof. Dr. med. Ernst Robert Grawitz verant-
wortlich, der Blaschke für die Einrichtung
eines zahnärztlichen Dienstes in der SS
gewinnen konnte – angeblich stellte er
Blaschke in Aussicht, er könne als Dentist in
der SS sofort die Bezeichnung Zahnarzt füh-
ren. Mit 53 Jahren trat Blaschke 1935 in die
SS ein. Verbindungen zu führenden SS-An-
Hugo Johannes Blaschke
Hitlers Zahnarzt
Hugo Johannes Blaschke war Hitlers Leibzahnarzt. Der Dentist ohne Abitur – vom
„Führer“ zum Professor ernannt – schaffte es bis zum „Obersten Zahnarzt beim
Reichsarzt-SS und Polizei“. Dass er die Rassenmedizin guthieß und um die Ermor-
dungen in den KZs wusste, brachte auch ihn nach 1945 nicht zu Fall, im Gegenteil.
Eine Historikertagung in Aachen widmete sich NS-Ärzten und ihren Karrieren.
Hitlers Zahnarzt Hugo Johannes Blaschke
Foto: Liselotte Strelow, zm-Archiv
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