Table of Contents Table of Contents
Previous Page  32 / 132 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 32 / 132 Next Page
Page Background

zm

107, Nr. 12, 16.6.2017, (1442)

Wie entwickelt sich die Hilfe für Kinder

mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten welt-

weit? Welchen Beitrag leistet die Auslands-

hilfe? In welche Richtung sollte gearbeitet

werden? Mit diesen Fragen setzt sich die

Deutsche Cleft Kinderhilfe e.V. seit Beginn

ihrer Tätigkeit im Jahr 2002 auseinander.

Dabei stehen sich fundamental gegensätz-

liche Vorstellungen von Hilfe gegenüber.

Die Deutsche Cleft Kinderhilfe positioniert

sich hier klar und richtet ihre Hilfe auf eine

ausschließlich nachhaltige Projektarbeit

aus, in deren Rahmen die einheimischen

Chirurgen, Ärzte, Therapeuten und Pro-

jektmitarbeiter im Zentrum stehen und die

Entwicklungen bestimmen.

Viele Organisationen und OP-Teams folgen

noch dem „Einsatz-Prinzip“ für ihre Aus-

landshilfe. Teams werden zusammenge-

stellt, Partner im Ausland für das Auffinden

von betroffenen Kindern gesucht und

Krankenhäuser als Operationsstandort aus-

gewählt. Unter dem Aspekt der Nachhal-

tigkeit unterscheiden sich Einsätze oder

„Missions“ imGrad ihrer Anbindung an die

vorhandenen einheimischen Strukturen.

Die Bandbreite erstreckt sich von ein-

maligen chirurgischen Einsätzen („Safari-

Chirurgie“), über wiederkehrende Einsätze

mit Ausbildungskomponenten (die häufig

nicht funktionieren) bis hin zu regelmäßigen

Einsätzen mit dem Ziel, ein von Einhei-

mischen getragenes Behandlungszentrum

aufzubauen und zu etablieren. Doch auch

dies scheitert häufig, weil den kulturellen

und politischen Gegebenheiten im Projekt-

land viel zu wenig Bedeutung beigemessen

wird. Fatal an diesen alten Konzepten ist,

dass sie positive Entwicklungen in einem

Land sogar behindern können.

In Indien fördert die Deutsche Cleft Kinder-

hilfe sechzehn Spaltzentren – unter anderem

in Agra, einer Millionenstadt südlich von

Neu-Delhi. Der leitende indische Mund-

Kiefer-Gesichtschirurg, Dr. Gaurav Gupta,

hat in acht Jahren 1.831 Operationen

durchgeführt und betreut seine Patienten

über viele Jahre umfassend. Doch seine

Arbeit ist extrem belastet. Nicht, weil ein

anderes, gut arbeitendes Zentrum Konkur-

renz macht, sondern weil Operationsteams

aus dem In- und Ausland „einfallen“, den

aus sehr einfachen Ver-

hältnissen stammenden

Patienten Versprechungen

machen und ihnen sogar

direkt Geld anbieten.

Gupta äußert sich eindeutig: „Operations-

einsätze für Spaltpatienten in Indien

müssen aufhören! Die Operationsqualität

ist schlechter als in Zentren. Es gibt keine

Nachbetreuung bei Komplikationen, von

einer umfassenden Behandlung unter

Beizug von Sprachtherapeuten, Zahn-

ärzten und Kieferorthopäden ganz zu

schweigen.“

Die Deutsche Cleft Kinderhilfe kennt die

Argumente der Organisationen und Chi-

rurgen, die von der Einzelfallhilfe ausgehen

und Einsätze nach wie vor für berechtigt

halten. Sie steht diesen Einsätzen in stark

unterversorgten Regionen und Ländern

auch nicht völlig ablehnend gegenüber,

aber eine wirklich positive Veränderung

erreichen wir dadurch für ein Land und

LKG-Spalten-Patienten nicht.

Ein langfristig wirksames Konzept bedingt

echte Partnerschaft, eine gute Beziehungs-

arbeit, kulturelles Verständnis und die

intensive Beschäftigung mit regionalen

privaten, gesellschaftlichen und politischen

Kräften im Land. Nur dann können Anlauf-

stellen, chirurgische Projekte und später

Spaltzentren erfolgreich aufgebaut werden.

Gute Hilfe im Ausland ist deshalb schwierig.

Nehmen wir das Beispiel Vietnam: Ein

Land, das als eines der ersten schon ab

Mitte der 80er-Jahre von unzähligen LKGS-

chirurgischen Gruppen besucht wurde.

Zehntausende Kinder sind seither operiert

worden, aber die Versorgung im Land

ist immer noch auf einem mangelhaften

Niveau. Natürlich liegt dies auch an den

sozioökonomischen Bedingungen, doch

die Initiatoren sollten sich heute die Frage

stellen, was sie hätten besser machen

können.

Bei den zumeist ehrenamtlichen Operations-

einsätzen spielt die Interessenlage eine

große Rolle. „Ich kann unbürokratisch

operieren“, „Ich bekomme seltene chirur-

gische Fälle“, „Ich kann ein Land anders

kennenlernen“, „Ich schätze das Gruppen-

erlebnis“, „Ich kann zu Hause über meinen

Einsatz positiv berichten“

sind Schlüsselmotive, die

wir gut kennen. Die ehr-

liche Beschäftigung mit

dem Land selbst steht in

der Regel hintan!

Welchen Normen und Werten folgen die

Menschen, denen wir helfen? Welchen

Normen und Motiven folgen unsere Ver-

handlungspartner und Freunde im Land?

Für wen gibt es eine Krankenversicherung?

Wie viel verdienen Ärzte und das Kranken-

hauspersonal im staatlichen System und

auf privater Basis? Wie hoch sind der for-

melle und der informelle Eigenbeitrag der

Patienten? Wie funktioniert die offizielle

Versorgung für Spaltkinder? Wie müssen

wir die Politik und die Verwaltung im Land

einbinden? Welche negativen Konsequen-

zen lösen wir im Land durch unser Engage-

ment aus? Welche ausländische Gruppe

hilft sonst noch im Land oder in der Region,

wo ich tätig werden möchte?

Die Suche nach Antworten ist schwierig

und zeitaufwendig, erhöht aber die Wahr-

scheinlichkeit markant, dass das eigene

Projekt eine nachhaltig positive Wirkung

für die medizinische Versorgung im Land

auslösen kann und keine Eintagsfliege

wird. Wir müssen deshalb offen sein für

eine intensive Kommunikation mit den

unterschiedlichsten Gesprächspartnern.

Im Kern ist es unmöglich, die Lebens-

bedingungen, die Lebensumstände und

die kulturellen Eigenheiten eines anderen

Landes tiefgründig zu verstehen. Wir kön-

nen uns jedoch annähern und so einen

nachhaltigeren Beitrag leisten, damit end-

lich in unserem Fall mehr Spaltkinder

umfassender behandelt werden – inklusive

einer guten Aufklärung der Eltern und der

notwendigen psychologischen Betreuung.

Eine über einheimische Strukturen getra-

gene, eigenverantwortliche Lösung für

ein medizinisches Problem sollte unser

Anspruch und unser Ziel sein. Zehn bis 20

Jahre sind der Zeitraum, den wir dafür ein-

planen müssen. Alle ehrenamtlich am Aus-

land Interessierten bitten wir, sich ebenfalls

in so angelegten Projekten zu engagieren.

Alexander Gross

Geschäftsführer Deutsche Cleft Kinderhilfe e. V.

Warum Safari-Chirurgie so nicht funktioniert!

S

TATEMENT

Foto: Deutsche Cleft Kinderhilfe e.V.

32

Gesellschaft