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107, Nr. 1, 1.1.2017, (35)
Lokalanästhesie mit ihren möglichen Fern-
wirkungen von vielen Ärzten praktiziert und
in ihrer Wirkung bestätigt (Abbildung 1).
Mundakupunktur als
Reflextherapie
Da in der Mundschleimhaut keine Nadeln –
wie sonst in der Akupunktur – gesetzt wer-
den können (Aspirationsgefahr), erwies sich
die Lokalanästhesie-Injektion als optimale
Alternative. Die Bezeichnung ‚Mundaku-
punktur’ weist auf die erwähnten Wechsel-
beziehungen vom Zahn-Kiefer-System zu
den Akupunktur-Systemen hin – den Meri-
dianen und Funktionskreisen. Die an spezifi-
schen Punkten, beziehungsweise Arealen,
gesetzten Injektionen lassen sich auch als
Reflextherapie interpretieren.
Während bei der Neuraltherapie und Stör-
feld-Diagnostik die an ein vermutetes Areal
gesetzte Lokalanästhesie-Injektion zu nicht
voraussehbaren Fernwirkungen führen
kann, ist die an spezifischen Akupunktur-
Punkten gezielt angesetzte Therapie in ihrer
Fernwirkung gebahnt durch die erwiesenen
Beziehungen zu den Meridianen und Funk-
tionskreisen (Abbildung 2). Diese Wechsel-
wirkungen bedingen eine gegenseitige
Beeinflussbarkeit: Das Zahn-Areal (Zahn
samt Halteapparat und Umgebung) kann
Funktionsstörungen innerer Organe signali-
sieren, was sich zumeist in der circumscrip-
ten Druckdolenz der Schleimhaut anzeigt.
Umgekehrt kann vom Zahn-Areal ein Stör-
reiz zur korrelierenden inneren Funktion
ausgehen. Wie alle funktionellen Wechsel-
wirkungen im Organismus dienen solche
gebahnten Reflexe der gegenseitigen Kom-
pensation und sollten nicht sofort als patho-
logische Befunde gewertet werden [Voll R.,
1977 ; Kramer F., 1976].
Auf derartige an der Körperoberfläche auf-
tretende ‚Signale’ hat vor 120 Jahren Henry
Head, der Begründer der Neurophysiologie
und Entdecker der Segment-Ordnung, hin-
gewiesen: Der Organismus reagiert laut
Head als erstes mittels vegetativer Früh-
Zeichen. Danach kommt es zu funktionellen
Symptomen, speziell an Bindegewebe und
Muskulatur. In diesen frühen Stadien – so
forderten Head und sein Mitstreiter
Mackenzie – sollte die Therapie ansetzen im
Sinne der Prävention.
Diese Frühdiagnostik verlangt eine ‚hands-
on-Palpation’, an der es in der modernen
Medizin mangelt. Head entdeckte mittels
Palpation innerhalb der Segmente auffällig
drucksensible ‚Maximalpunkte’, die er als
viscerocutane Reflexe definierte und dia-
gnostisch nutzte. An diesen Orten setzte er
seine cutiviscerale Segment-Therapie an
[Head H., 1898].
In solcher ‚Innen-Außen-Verschaltung’ wird
die Parallele zur Jahrtausende alten
Akupunktur offensichtlich, wobei diese in
ihren Leitbahnen (‚Meridianen’) – anders als
die horizontalen Segmente – eine vertikale
Ordnung erkennen lässt. Die weitgehende
Übereinstimmung der Head’schen Maxi-
malpunkte mit Akupunktur-Punkten ist in
Studien nachgewiesen. Auch in der Traditi-
on der chinesischen Medizin galt die
Akupunktur vorrangig der Prävention.
Das Punkt-Phänomen
In 40-jähriger Erfahrungszeit haben sich
spezielle Areale der Mundschleimhaut
extrem häufig als drucksensibel beobachten
lassen: so das erwähnte Gebiet bukkal-distal
am Tuber maxillare. Dieses Symptom findet
sich bei der Sinusitis, ist aber ebenso häufig
Ausdruck einer Dysfunktion, einer Tension
des lateralen Pterygoid-Muskels. Eine hier
ansetzende Injektions-Therapie hat einen
spasmolytischen Effekt auf diesen wichtigs-
ten Kaumuskel.
Die an druckschmerzhaften Punkten gezielt
anzusetzende Injektion erfolgt erfahrungs-
gemäß am besten mittels eines schwach-
prozentigen Lokalanästhetikums (wie
Procain 0,5 Prozent ohne Vasokonstriktor!).
Die anschließende palpative Kontrolle ver-
rät, ob noch drucksensible Stellen verblie-
ben sind und nachtherapiert werden soll-
ten. Es gilt dabei, in dem Areal eine völlige
Schmerzfreiheit zu erreichen. Bei tiefer
Injektion mit hochprozentiger Lokalanäs-
thesie ist die weite Umgebung analgesiert
und erlaubt keinen Rückschluss auf persistie-
rende Punkt-Signale. Diese Beobachtung
belegt die Bedeutung des Punkt-Phäno-
mens: Es geht nicht um die Analgesie des
Areals, sondern um das ‚Stumm-Werden’
der punktuell auftretenden Signalmeldun-
gen [Gleditsch JM, 2005].
Very-Point-Technik
Die Punkt-Erfahrung hat zur Very-Point-
Technik geführt; denn palpativ lässt sich
allenfalls ein Areal beurteilen. Der sensibels-
te Punkt ist eher mit einem feinen Kugel-
stopfer auffindbar; oder – wie in der Mund-
höhle bewährt – mittels der Nadel selbst als
‚Detektor’: Diese gleitet sanft tangential
über das vermutete Areal ohne zu traumati-
Die Medizin wie auch die Zahnmedizin
stützen sich bekanntlich auf wissenschaft-
liche Methoden, Daten und Fakten sowie
auf Anwendungsbeobachtungen, die
reproduzierbar sind und die dem Wohle
des Patienten dienen. Ärzte und Zahnärzte
verlassen sich also in der Praxis nicht allein
auf ihre individuellen praktischen Erfah-
rungen, sondern beziehen die Ergebnisse
der aktuellen wissenschaftlichen For-
schung in ihre Therapie-Empfehlungen
mit ein.
Ungeachtet dessen haben sich mit der al-
ternativen und komplementären Medizin
und Zahnmedizin Methoden in der Ge-
sundheitslehre etabliert, die die Gesund-
heit des Patienten durchaus unterstützen
und schmerzlindernd wirken, obwohl
sie den Vorgaben der evidenzbasierten
Medizin nicht standhalten.
Dazu gehört auch die Mundakupunktur,
deren Entwicklung, Verfahren und An-
wendungsbereiche wir Ihnen in diesem
Beitrag darstellen möchten, mit dem Ziel,
Sie auch über Felder jenseits der Schul-
medizin zu informieren – wohlwissend,
dass Sie sich hierzu Ihre eigene Meinung
bilden.
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