zm
107, Nr. 6, 16.3.2017, (602)
auch nicht indiziert sei. Das ist so nicht
richtig. Evidenzbasierte Medizin
bedeutet, dass neben der best-
verfügbaren externen Evidenz
auch die persönliche Expertise
des Arztes und die Patienten-
präferenzen für die Entschei-
dung herangezogen werden.
Würden wir diesen Ansatz nicht
täglich praktizieren, wäre eine zahn-
medizinische Therapie in vielen Fällen gar
nicht mehr möglich.
Wie auf allen Gebieten der Medizin gibt es
allerdings auch in der praktizierten Zahn-
medizin Maßnahmen von tatsächlich frag-
lichem Nutzen: Jedem von uns wird eine
Reihe von derartigen Behandlungen
auf Anhieb einfallen. Hier kann
der Ansatz der evidenzbasier-
ten Medizin außerordentlich
hilfreich sein, um tradierte,
nicht belegte Maßnahmen
durch solche mit nachgewiese-
ner Wirksamkeit zu ersetzen.
Das Problem der fehlenden Evidenz ist
also ein vielschichtiges; und Nutzenbewer-
tungen auf einem hohen Evidenzniveau
sind per se nicht unsinnig. Sie werden erst
dann schädlich, wenn sie auf verschiedenen
Ebenen falsche Schlussfolgerungen befördern
Foto: Uniklinik Dresden G. Bellmann
und dazu führen, dass nachgewiesener-
maßen wirksame Behandlungen nicht mehr
durchgeführt beziehungsweise der Bevölke-
rung vorenthalten werden. Daher sollten
auch Nutzenbewertungen auf die best-
verfügbare Evidenz zurückgreifen. Jenseits
von Nutzenbewertung, IQWiG und G-BA
kann evidenzbasierte Zahnmedizin dazu
beitragen, unser Fach voranzubringen und
Qualität zu fördern. Lassen Sie uns also trotz
allem aufgeschlossen sein in der Einordnung
evidenzmedizinischer Ansätze.
Prof. Dr. Michael Walter,
Präsident der Deutschen Gesellschaft für
Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Bereits im vergangenen Jahr hat Prof. Dr. Dr.
Martin Kunkel (Bochum) in seiner Publikation
„A change in the NICE guidelines on anti-
biotic prophylaxis“, veröffentlicht im British
Dental Journal, ausgeführt, welche Auswir-
kungen es haben kann, wenn Empfehlungen
auf formal höchstem Evidenzniveau erarbeitet
werden. In „Der MKG-Chirurg“ findet sich ein
aktueller Kommentar, der hier mit freundlicher
Genehmigung des Verlags nachgedruckt wird:
Der aufmerksame Leser der „Mund-, Kiefer-
und Gesichtschirurgie“ konnte in den ver-
gangenen Jahren an dieser Stelle immer
wieder einmal Hinweise zu Studien finden,
die dem „Mainstream“ der gesundheits-
politischen „Correctness“ und dem Wunsch
nach einer universellen Abbildung der Me-
dizin in formaler Studienevidenz und justi-
ziablen Empfehlungen widersprochen haben.
In der Regel handelte es sich um Studien,
die interessante Aspekte zur gängigen
Rechtsprechung beigetragen [Garisto GA,
2010], mit fragwürdigen Lehrmeinungen
und Leitlinien gebrochen [Balevi B, 2010;
Healey JS et al., 2012; Douketis JD, 2015]
oder sich mit unverständlichen gesund-
heitspolitischen Vorgaben [Dayer MJ, 2015;
Thornhill MH, 2015] kritisch auseinander-
gesetzt haben.
Häufig verhallen solche kritischen „Zwischen-
rufe“ im klinischen und wissenschaftlichen
Routinebetrieb, der sich schnell wieder dem
nächsten vielversprechenden
Thema zuwendet, oder wer-
den als Ausdruck der Schrul-
ligkeit
unverbesserlicher
Nörgler abgetan. Umso er-
freulicher ist es dann, wenn
sich selbst übermächtige staat-
liche Organisationen wie das britische
National Institute of Clinical Excellence
(NICE) schließlich den Realitäten beugen
müssen, die von einer qualifizierten und
konsequenten Arbeitsgruppe [Thornhill,
Dayer et al.] unerbittlich in den Fokus der
wissenschaftlichen Öffentlichkeit gebracht
wurden. In der Folge hat nun, nach mehr
als acht Jahren, das NICE seine Position
zur Endokarditisprophylaxe revidiert und
seine kategorische Ablehnung der antibio-
tischen Prophylaxe bei dentalen Eingriffen
relativiert.
Entlarvend ist dabei nicht nur die Vor-
gehensweise – die Änderung erschien ohne
Ankündigung und Kommentierung einfach
auf der Homepage des NICE –, sondern
auch der zeitliche Ablauf. Die Änderung
wurde vorgenommen, nachdem sich zwei
Witwen, deren Ehemänner an infektiösen
Endokarditiden nach Zahnreinigungen ohne
Endokarditisprophylaxe verstorben waren,
mit der Unterstützung eines Parlaments-
abgeordneten gegen das NICE gewandt hat-
ten und insoweit eine öffentliche politische
Diskussion der Endokarditisproblematik im
Vereinigten Königreich drohte. An dieser
Stelle war dann die Studienlage im Hinblick
auf fehlende prospektiv randomi-
sierte Studien urplötzlich kein
Problem mehr. Beruhigend ist
an dieser Stelle, dass sich
letztlich Konsequenz und eine
gewisse Hartnäckigkeit der wis-
senschaftlichen Seite (mit situativer
politischer Unterstützung) gegen ge-
sundheitsökonomisch dominierte Positionen
durchsetzen konnten. Bedauerlich ist, dass
bis zur Kehrtwende des NICE rund 400
Patienten völlig unnötig gestorben sind.
Für die Angehörigen wird es sicher nur
ein schwacher Trost sein, dass die Empfeh-
lungen, die letztlich den Tod ihrer Eltern,
Kinder oder Partner verursacht haben,
auf dem höchsten formalen Evidenzniveau
erarbeitet wurden.
Prof. Dr. Dr. Martin Kunkel
Klinik für Mund-, Kiefer- und Plastische
Gesichtschirurgie, Universitätsklinikum
Knappschaftskrankenhaus Bochum
In der Schornau 23–25
44892 Bochum
martin.kunkel@ruhr-uni-bochum.deQuelle: ,,NICE Change – Endokarditis-
prophylaxe heimlich, still und leise und ganz
ohne prospektiv randomisierte Studie“,
MKG-Chirurg 2017 · 10:45–46
DOI 10.1007/s12285-016-0079-9
Online publiziert: 20. Dezember 2016
Kommentar Prof. Martin Kunkel
„Nice Change“
Foto: privat
Die Literaturliste kann auf
www.zm-online.deabgerufen oder in der Redaktion angefordert
werden.
32
Politik