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106, Nr. 24 A, 16.12.2016, (1474)
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Nitrat gegen Gingivitis – Das Wissen um Nitrate hat sich massiv verändert!
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Stellungnahme zum Leserbrief von Dr. Klehmet, Bremen,
zm 23/2016, S. 10.
Die von Herrn Dr. Klehmet in
seinem Leserbrief polemisch
geäußerte Kritik an den Unter-
suchungen und Schlussfolgerun-
gen unseres Autorenteams
reflektiert exemplarisch die kon-
troversen Diskussionen, welche
in den letzten 40 Jahren über den
Nutzen oder die Risiken der ali-
mentären Aufnahme von Nitra-
ten geführt wurden. Sie bezieht
sich dabei meist auf alte, aber
immer noch prävalente Vorstel-
lungen und Hypothesen, deren
Gültigkeit jedoch durch eine Viel-
zahl aktueller Forschungsergeb-
nisse mittlerweile infrage gestellt
bzw. widerlegt wurde.
Um dem Leser ein besseres Ver-
ständnis der aktuellen Nitrat-
diskussion zu ermöglichen, sei
deshalb noch einmal auf die
essenziellen Themen Kanzeroge-
nität und Umweltschädlichkeit
im Detail eingegangen. Da die
akute Toxizität der Nitrate unbe-
deutend ist, soll darauf nicht
weiter eingegangen werden.
Kanzerogenität der Nitrate
Die mutmaßliche Kanzerogeni-
tät von Nitrat beruht auf der
Beobachtung, dass verschiedene
orale und intestinale Bakterien in
der Lage sind, mit der Nahrung
oder dem Trinkwasser aufge-
nommenes Nitrat zu Nitrit zu
reduzieren. Jenes wiederum ist
chemisch sehr reaktiv und kann
in Anwesenheit nitrosierbarer
Amine im sauren Milieu des
Magens prinzipiell die Bildung
kanzerogener Nitrosamine be-
günstigen.
Wie weit dieser Mechanismus
auch klinisch von Bedeutung ist,
wurde u. a. von der International
Agency for Research on Cancer
(IARC), einer Unterorganisation
der WHO, evaluiert, welche alle
relevanten klinischen Studien
hierzu analysierte und 2006 in
einer Monografie zusammen-
fasste. Entgegen einschlägiger
Erwartungen offenbarten die Da-
ten diverser epidemiologischer
Studien, dass eine hohe Nitrat-
aufnahme durch häufigen Kon-
sum nitrathaltigen Gemüses mit
einem signifikant reduzierten
Risiko für Magenkrebs verbun-
den war. Im Gegensatz hierzu
zeigten andere klinische Studien,
dass ein vermehrter Konsum
nitritgepökelten roten Fleisches
mit einer erhöhten Inzidenz von
Magenkrebs korrelierte. Als mög-
liche Erklärung hierfür wurde
angeführt, dass rotes Fleisch
natürlicherweise nitrosierbare
Amine enthält, während sich in
nitrathaltigem Gemüse sehr häu-
fig Ascorbinsäure oder andere
Antioxidantien in hoher Konzen-
tration finden, welche im sauren
Milieu des Magens wirksam die
Bildung von Nitrosaminen unter-
binden. Da diese Faktoren ent-
scheidend die potentielle Kanze-
rogenität von Nitrat und Nitrit
beeinflussen, stufte die IARC mit
der Nahrung aufgenommenes
Nitrat und Nitrit nur unter Bedin-
gungen
die zu endogener Nitrosierung
führen als „möglicherweise für
Menschen karzinogen“ ein.
Nachfolgende Befunde aus tier-
experimentellen Studien wider-
sprachen selbst dieser einschrän-
kenden Kategorisierung. So stell-
ten Bryan et al. 2012 in einer
Übersichtarbeit fest, dass eine
krebsförderliche Wirkung des
Konsums von Nitrat/Nitrit ohne
den zeitgleichen Konsum direkter
Vorstufen karzinogener Nitrosa-
mine nicht nachzuweisen ist.
Weitere aktuelle klinische Unter-
suchungen belegen mittlerweile
zweifelsfrei, dass der häufige
Konsum von Gemüsesorten wie
Spinat, Kohl, Kopfsalat, Toma-
ten, Karotten u. a., die in ihrer
Mehrheit Nitrat in höherer Kon-
zentration enthalten, das Risiko
für die Entstehung von Krebs-
erkrankungen in Ösophagus,
Magen, Rachen und Kehlkopf
signifikant abzusenken vermag.
Selbst die von Dr. Klehmet ange-
führte Therapie mit „Nitro-Medi-
kamenten“ erwies sich über 100
Jahre als sicher, und Nitroglycerin
wurde kürzlich nach Auswertung
des Repurposing Drugs in Onco-
logy (ReDO)-Projekts sogar als
nützliches Adjuvans in der Tumor-
therapie vorgeschlagen.
Die von uns als Schlussfolgerung
unserer eigenen Gingivitis-Studie
formulierte Empfehlung zum
häufigeren Konsum nitratreichen
grünen Blattgemüses ist daher
keinesfalls als risikobehaftete,
zeitlich begrenzte „Kur“ zu ver-
stehen. Sie steht vielmehr im Ein-
klang mit den aktuellen Erkennt-
nissen der Ernährungsmedizin.
Der vom FAO/WHO Expert Com-
mittee on Food Additives (JECFA)
im Jahre 2002 erneut bestätigte
ADI-Wert (Acceptable Daily
Intake) ist im Übrigen kein nur
kurzfristig zulässiger Maximal-
wert (3,7 mg/kg Körpergewicht
entsprechend 260 mg Nitrat bei
70 kg Körpergewicht), sondern per
definitionem diejenige Menge,
deren lebenslange tägliche Auf-
nahme als gesundheitlich unbe-
denklich angesehen wird. Dabei
hält der ADI-Wert einen Sicher-
heitsabstand um den Faktor 100
zu der minimalen Dosis ein, bei
der in tierexperimentellen Studien
erste negative gesundheitliche
Folgen beobachtet wurden. Bei
vegetarischer Ernährung werden
übrigens täglich bis zu 400 mg
Nitrat aufgenommen!
Nitrate als Umweltschadstoffe
Die zunehmende Belastung der
Ackerböden sowie des Grund-
und Trinkwassers mit Nitraten,
wie sie aktuell beispielsweise
durch den flächenhaften, sehr
düngungsintensiven Anbau von
Mais und Raps zur Produktion
von Biotreibstoffen oder die Mas-
senaufzucht von Schlachttieren
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