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107, Nr. 3, 1.2.2017, (268)
Gerade hat das Institut der Deutschen
Zahnärzte (IDZ) die Fünfte Deutsche Mund-
gesundheitsstudie (DMS V) veröffentlicht –
mit einer umfangreichen Dokumentation der
zentralen Kennziffern zur aktuellen Karies-
und Parodontitislast einschließlich der pro-
thetischen Versorgungssituation bei Kindern
und bei jüngeren Erwachsenen sowie bei
jüngeren und älteren Senioren [1]. Erstmals
wurde dabei im sozialwissenschaftlichen
Erhebungsteil für Deutschland der Ansatz
der Salutogenese berücksichtigt, der in der
internationalen Gesundheitsforschung schon
länger viel Beachtung findet.
Dieses Konzept wurde in den 1980er-Jahren
von dem israelisch-amerikanischen Medizin-
soziologen Aaron Antonovsky entwickelt.
Antonovsky stellte die damals völlig neue
Frage, wie Menschen in belastenden Situa-
tionen ihre Gesundheit bewahren können
und welche inneren Voraussetzungen vor-
handen sein müssen, um dieses Ziel zu
erreichen. Im Gegensatz zur Pathogenese,
die sich damit beschäftigt, was Menschen
krank macht (Risikofaktoren), rückt die
Salutogenese in den Mittelpunkt, was
Menschen gesund erhält (Schutzfaktoren).
Wenn man so will, also eine Umkehrung der
Fragestellung zum Komplex von Gesundheit
und Krankheit.
Eine völlig neue Frage:
Was macht uns gesund?
Auf der Basis umfangreicher Befragungen
von Menschen, die durch extreme Stress-
situationen gegangen sind, hatte Antonovsky
herausgefunden, dass es einen „Kohärenz-
sinn“ geben muss, der einem helfen kann,
mit Belastungen oder Bedrohungen der ei-
genen Gesundheit besser fertig zu werden.
Er beschrieb diesen „Sense Of Coherence“
(SOC) als die Grundhaltung eines Menschen
gegenüber der Welt, die ihn befähigt, mehr
oder weniger gut die gesundheitsbelasten-
den Anforderungen des Lebens zu meistern.
Dabei unterschied er aufgrund seiner For-
schungen drei Komponenten, aus denen
sich diese Grundhaltung speist:
\
die Verstehbarkeit von Ereignissen
\
die Handhabbarkeit von Ereignissen
\
und die Sinnhaftigkeit von Ereignissen
Erst deren inneres Zusammenspiel formt
nach Antonovsky die Stärke oder den Grad
der Ausprägung des Kohärenzsinns eines
Menschen.
Als Ergebnis legte die Salutogenese-For-
schung einen Fragebogen vor, mit dem sich
der SOC eines Menschen messen lässt.
Nach einem systematischen Review aus dem
Jahr 2005 stellt der SOC-Ansatz gemäß der
bisher weltweit vorgelegten Studien ein
valides und reliables Erhebungsinstrument
dar, um das gesundheitsbezogene Stress-
management einer Person abzubilden [2].
Dieser Paradigmenwechsel in der Gesund-
heitsbetrachtung erlaubt nunmehr einen
völlig neuen Blick auf das Gesundheits- und
Krankheitsgeschehen von Menschen und
löste eine Vielzahl von wissenschaftlichen
Anwendungen aus, vor denen auch die
Zahnmedizin nicht haltmacht: Der SOC
wurde zum Beispiel im Jahr 2000 im bevöl-
kerungsrepräsentativen Dental Adult Survey
in Finnland systematisch eingesetzt [3] –
mit dem Ergebnis, dass die Mundhygiene-
gewohnheiten oder das zahnärztliche Inan-
spruchnahmeverhalten hier ganz erheblich
mit dem SOC beziehungsweise seinem Aus-
prägungsgrad korrelieren.
Das Konzept der Salutogenese
Wie wir uns gesund erhalten können
Dr. Wolfgang Micheelis
Die Salutogenese dreht die gängige Betrachtungsweise um: Statt zu fragen,
was uns krank macht, richtet sie den Blick darauf, welche Voraussetzungen
Menschen mitbringen müssen, damit sie sich auch unter Stress gesund erhalten.
Das ist keine reine Theorie, im Gegenteil: Der Ansatz bietet dem Zahnarzt völlig
neue Möglichkeiten, den Patienten zu mehr Mundgesundheit zu motivieren.
Die Salutogenese rückt das
Gesundheitsmanagement jedes
Einzelnen in den Vordergrund.
Foto: abraham-fotolia
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Zahnmedizin