Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 23-24

ZAHNÄRZTLICHE MITTEILUNGEN I WWW.ZM-ONLINE.DE AUSGABE 23-24 I 2022 Implantatverlust durch SARS-CoV-2? Eine Studie hat im Tiermodell die Auswirkung der Infektion auf den Knochenstoffwechsel untersucht. SEITE 10 Zahnärztliche Behandlung bei obstruktiver Schlafapnoe Erste klinische Erfahrungen zur leitliniengerechten Therapie mit Unterkieferprotrusionsschienen SEITE 46 PZR-Umfrage 2022 Die Leistungen von 62 Krankenkassen bei der Professionellen Zahnreinigung auf einen Blick SEITE 64 zm1.12.2022, Nr. 23-24 DENTAL PUBLIC HEALTH Gruppenprophylaxe nach Corona

zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2245) Zeit der Veränderung zusammen mit unserem neuen Verlagspartner, der MedTriX-Group, herausgegeben. Wir möchten uns an dieser Stelle zusammen mit unseren Herausgebern, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und der Bundeszahnärztekammer, bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Ärzteverlags ganz herzlich für die langjährige gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit bedanken. Über viele Jahre hinweg konnte die Marktführerschaft unter den Print-Titeln am Dentalmarkt behauptet werden. Mit dem Verlagswechsel wollen wir diesen erfolgreichen Weg weitergehen und zugleich neue Möglichkeiten der Fortentwicklung erschließen. Für Sie, liebe Leserinnen und Leser, bedeutet der Wechsel, dass Sie die zm weiterhin in der gewohnten Qualität erhalten. Auch für unsere Anzeigenkunden ändert sich nichts. Am sichtbarsten wird der Wechsel zunächst bei unserem Portal zm-online.de, das sich ab Januar in einem ganz neuen Gewand zeigen wird. Ein Besuch unserer neuen Website lohnt sich auf jeden Fall. Die zm-Redaktion wünscht Ihnen und Ihren Familien eine schöne Adventszeit, ein besinnliches Weihnachtsfest und einen guten Start ins Jahr 2023. Wir sehen uns mit der nächsten Ausgabe am 16. Januar wieder. Bleiben Sie gesund! Sascha Rudat Chefredakteur Ein mehr als ereignisreiches Jahr neigt sich langsam dem Ende entgegen. Leider waren die meisten Ereignisse negativer Natur. Während Corona derzeit offenbar an Kraft verliert, war dieses Jahr vor allem durch den noch immer andauernden Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine überschattet. Die Folgen sind verheerend – auch hierzulande. Auch in der zahnmedizinischen Versorgung dürfte das Jahr 2022 als eher düsteres Jahr in die Geschichtsbücher eingehen. Die Konsequenzen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes, über das wir wiederholt berichtet haben, sind noch nicht vollständig absehbar und werden sich erst im nächsten Jahr zeigen. Und schlimmer noch: Politik und gesundheitliche Versorgung entfernen sich immer mehr voneinander. Dabei sollte in diesen schwierigen Zeiten eigentlich zusammenstehen angesagt sein. In der Titelgeschichte dieser Ausgabe beschäftigen wir uns mit den gravierenden Folgen der Corona-Pandemie auf die (Mund-)Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Sie waren von der Pandemie besonders betroffen – vor allem durch die Schließungen und die erheblichen Einschränkungen in Kindertagesstätten und Schulen. Neben den Folgen für die individuelle Gesundheit und Mundgesundheit sind – parallel dazu – auch die Auswirkungen auf die Präventionsstrukturen wie die Gruppenprophylaxe erheblich. Wir zeigen, welche Konsequenzen jetzt notwendig sind. Dass eine COVID-Infektion Auswirkungen auf die unterschiedlichsten Bereiche des Körpers haben kann, ist inzwischen bekannt. Aufhorchen lassen allerdings erste Erkenntnisse, die einen Zusammenhang zwischen der Infektion und vermehrten, bisher nicht erklärbaren Implantatverlusten erkennen lassen. Wir stellen die aktuellen Forschungsergebnisse vor. Das Thema Fremdinvestoren ist in den vergangenen Monaten in der Medizin und Zahnmedizin immer drängender geworden. Versorgungsfremde Kapitalgesellschaften breiten sich immer weiter aus. Mit schwerwiegenden Folgen für die Versorgung. Wohin dies führen kann, zeigt der Blick auf die Tiermedizin. Dort treten Fremdinvestoren immer häufiger auch als Betreiber von tierärztlichen Praxen und Kliniken in Erscheinung. Und ein Ende ist nicht absehbar. Die Meinungen über diese Entwicklung gehen in der Tierärzteschaft deutlich auseinander. Für die zm stehen derweil die Zeichen auf Veränderung. Diese Ausgabe ist die letzte, die in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Ärzteverlag entstanden ist. Ab Januar werden die zm und unser Nachrichtenportal zm-online Foto: Lopata/axentis EDITORIAL | 03

zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2246) Inhalt MEINUNG 3 Editorial 6 Leitartikel ZAHNMEDIZIN 10 Aus der Wissenschaft Führt SARS-CoV-2 zu Implantatverlusten? 22 Ein interdisziplinärer Fall Penetrierende Schussverletzung am Hals durch Armbrustbolzen 34 Veganes ChirurgieCurriculum Nähen üben ohne Schweinekiefer 46 Leitliniengerechte Therapie mit einer Unterkieferprotrusionsschiene Der klinische Algorithmus der UPS-Behandlung 56 Deutscher Zahnärztetag 2022 Kritisch hinterfragt: Ethik – Biologie – Sport GESELLSCHAFT TITELSTORY 14 Auswirkungen von Corona auf die Prävention Wir brauchen mehr Dental Public Health 82 20 Jahre Deutsche Cleft Kinderhilfe Mit einer OP ein Kinderleben zum Guten wenden 35 Kulturstaatsministerin im Dentalhistorischen Museum „Es ist überwältigend“ PRAXIS 18 Patientenbewertungen Was man aus 2-SterneBewertungen lernen kann 30 Fehler rund um eine Laborleistung Wer haftet? Foto: Universitätsklinikum Freiburg 22 Schussverletzung durch Armbrustbolzen Interdisziplinäre Notfallversorgung einer Patientin mit doppelter Schusswunde am Hals 36 Fremdinvestoren in der Tiermedizin Auch Haustiere sind zu einem Markt für große Konzerne geworden. Foto: Sulamith Sallmann – stock.adobe.com Titelfoto: Robert Poorten - 04 | INHALTSVERZEICHNIS

zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2247) 44 Wie Sie die Zusammenarbeit mit dem Steuerberater optimieren Ein Scanner bewirkt Wunder 64 Professionelle Zahnreinigung Diese Kassen zahlen bei der PZR! POLITIK 28 Landessozialgericht Baden-Württemberg TI-Konnektor: Klage gegen vollständige Kostenerstattung abgewiesen 36 Kapitalketten in der Tiermedizin Der Investor und das liebe Vieh 42 Umfrage der Stiftung Gesundheit Was das Gesundheitswesen fürs Klima tun könnte 54 Beschluss im Bundestag Die neue Triage-Regelung ist verabschiedet 84 Jahrestagung der ISO – TC 106 Zahnheilkunde Wie Normen die Qualität in der Zahnmedizin sichern MARKT 95 Neuheiten RUBRIKEN 60 Termine 62 Formular 85 News 86 Persönliches 88 Bekanntmachungen 100 Impressum 122 Zu guter Letzt Foto: metr1c - stock.adobe.com 30 Fehlerhafte Laborleistung Welche Haftungsregeln greifen, wenn die Krone nicht passt. TITELSTORY 14 Auswirkungen von Corona auf die Prävention Zurück zur Gruppenprophylaxe! Wir brauchen bessere Strukturen für mehr Mundgesundheit. Foto: zorandim75 – stock.adobe.com INHALTSVERZEICHNIS | 05

zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2248) Wer hätte noch vor drei Jahren gedacht, dass gleich zwei der größten Bedrohungen, die man sich als Mensch vorstellen kann, in kurzer Folge auf uns niederprasseln. Eine Pandemie, die auf dem Weg schien, unseren schönen Beruf abrupt zu beenden, und ein absurder Krieg, der unserem Leben die (wirtschaftliche) Grundlage entziehen könnte. Krise bedeutet Chance, heißt es und tatsächlich konnte die Zahnmedizin im vergangenen Jahr Chancen nutzen. „The Good“: 1. Mit „Zahnmedizin kann Hygiene“ haben wir uns den Respekt der gesamten Gesundheits-Community erworben. Der Anlass „Corona“ wird in Vergessenheit geraten, die Botschaft darf es nicht, denn sie ist unsere wichtigste Abwehr gegen die deutsche Hygiene-Überbürokratie. Bitte kommunizieren Sie weiterhin „Wir können Hygiene“! 2. Dass wir impfen dürfen, hat uns ebenfalls Augenhöhe und Respekt verschafft, egal ob jemand jetzt geimpft hat oder nicht. Den KZVen ist zu danken, dass sie den hochkomplexen Verwaltungsweg gangbar gemacht haben. Dieser Weg sollte auch für die Zukunft offen bleiben. 3. Eine 34 Jahre alte Gebührenordnung hat den – einzigen – „Vorteil“, dass sie nicht mehr die aktuelle Zahnmedizin abbildet. Dazu schlägt das Bundesgesundheitsministerium jetzt vor, die nicht enthaltenen Leistungen über die Analogabrechnung der Bundeszahnärztekammer zu erschließen. Aktuell wurde mit der Expertise der Länderreferentinnen und -referenten die neue ParoStrecke nachgebildet und befindet sich gerade in Abstimmung mit den PKVen. Weiteres muss folgen. 4. Die Parodontitis ist die SignatureErkrankung des Menschen, weil sie existiert – anders als die Karies –, seit es Menschen gibt. Mit der Vorarbeit der Wissenschaft ist es endlich gelungen, einen Behandlungspfad zu entwickeln, der in der Praxis sicher funktionieren wird. Wie reif die Gesellschaft für diese Botschaft ist, zeigt der Erfolg der „Jetzt den Paro-Check machen!“- Kampagne der BZÄK, der alle Erwartungen übertroffen hat. Damit sind wir schon bei „The Bad“: 1. Eine GKV-Paro-Strecke zu genehmigen, um ihr dann hintenrum mit dem „GKV-Finanzstabilisierungsgesetz“ den Strom runterzudrehen, ist schlicht schäbig. Eins ist klar, die Paro-Strecke darf nicht sterben, weil sie so wichtig für die Mundund Allgemeingesundheit ist. Dafür kämpfen wir alle gemeinsam! 2. Deutschland liebt Bürokratie: Beantragen, prüfen, kontrollieren, verweigern und bestrafen. Leider haben die Betrügereien im Zusammenhang mit Corona-Testungen nicht vom Gegenteil überzeugt. Uns bleibt nur der ständige Abwehrkampf. Trotzdem sollten wir auch Erfolge erkennen. In der gut gemachten Befragung des Normenkontrollrats nannte die Zahnmedizin 2015 den Heil- und Kostenplan mit 52 Prozent als größte bürokratische Last. Vielleicht hat die Digitalisierung hier doch auch Erleichterung verschafft. Und jetzt „The Ugly“: 1. Die Ziele von Links (Grüne und SPD: MVZs in öffentlicher Hand) und Rechts (Investoren-MVZs) sind an einem Punkt völlig identisch: Sie wollen uns als alleine Sachkundigen das Steuer aus der Hand nehmen und uns auf den Kindersitz verbannen. Wir sollen schön brav und pflegeleicht angestellt sein, während vermeintliche Expertinnen und Experten von außen die Richtung bestimmen. Wie erfolgreich das dann sein wird, mag man gerne in der öffentlichen wie privaten Krankenhauswelt beobachten. Es gibt nur einen wirksamen Protest: Lasst Euch nieder und das besonders auch auf dem Land! 2. Wann wird die Politik endlich verstehen, dass sich Digitalisierung nicht staatlich verordnen lässt – so wenig wie iPhone, Tesla und TikTok. Und ja, uns Zahnärztinnen und Zahnärzten geht die Geduld aus, Tester für Prä-Beta-Telematik zu sein. Vermutlich wären Angestellte da pflegeleichter. Könnte das ein Grund dafür sein, dass die Politik Angestellte so schätzt? 3. Mit ständigem Klagen zerstören wir das Vertrauen unserer Jugend in eine Zukunft als Chefin oder Chef. Politisches Engagement ist die einzig richtige Antwort auf Probleme. Verbände, Kammern und KZVen sind das Forum dafür: Statt destruktiv motzen, konstruktiv machen! Sie werden es wissen, „The Good, the Bad and the Ugly“ ist der Titel eines Sergio-Leone-Westerns in dem zuletzt doch „The Good“ siegt. Dranbleiben lohnt sich! Prof. Dr. Christoph Benz Präsident der Bundeszahnärztekammer Dr. Romy Ermler Vizepräsidentin der Bundeszahnärztekammer Konstantin von Laffert Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer Fotos: BZÄK/axentis.de The Good, the Bad and the Ugly – das Jahr 2022 im Rückblick 06 | LEITARTIKEL

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zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2252) Die Diskussion um „Long COVID“ und die Folgen außerhalb des Respirationstrakts wird wahrscheinlich noch lange andauern, da man erst langsam versteht, welche Konsequenzen eine Infektion mit SARS-CoV-2 nach sich ziehen kann. Das Fatigue-Syndrom, Kopfschmerzen, Anosmie (Verlust des Riechvermögens), Muskelschwäche, leicht erhöhte Temperatur und kognitive Dysfunktion werden hier genannt. Eine kürzlich durchgeführte Multicenter-Studie hat bei COVID-19Patienten, die intensivmedizinischer Betreuung bedurften, eine signifikant reduzierte Knochendichte festgestellt. Fraglich ist, ob dieser Befund sich generell auf COVID-19-Patienten übertragen lässt und wie die Mechanismen beschaffen sind, die dazu führen. MATERIAL UND METHODE Die Arbeitsgruppe um Wei Qiao aus Hongkong in China versuchte, diese Fragestellung im Rahmen einer Tierversuchsstudie am wissenschaftlich etablierten und weit verbreiteten Modell des syrischen Hamsters zu beantworten. Dazu wurden sechs bis zehn Wochen alte syrische Goldhamster (weiblich und männlich) mit SARS-CoV-2 infiziert, während der Kontrollgruppe eine isotonische Kochsalzlösung injiziert wurde. Blut, Lungen- und Knochengewebe wurden gewonnen bei der Opferung der Tiere vier Tage, 30 Tage und 60 Tage nach Infektion, um mikrotomografische, virologische und histopathologische Untersuchungen durchzuführen. ERGEBNISSE Die Infektion führt zu einem signifikanten Verlust von Knochentrabekeln, und zwar zu allen drei untersuchten Zeitpunkten. Die stärksten akuten Krankheitssymptome hatten die Hamster vier Tage nach der Infektion. Sie erholten sich generell nach etwa sieben bis zehn Tagen. An der distalen Metaphyse des Femurs zeigten die Tiere bereits nach vier Tagen (akute Phase), nach 30 Tagen (Erholungsphase) und nach 60 Tagen (chronische Phase) einen fortschreitenden Verlust an Knochentrabekeln im Mikro-Computertomogramm (CT). Auch 60 Tage nach der Infektion war die Knochendichte nicht wieder auf dem Niveau wie vor AUS DER WISSENSCHAFT Führt SARS-CoV-2 zu Implantatverlusten? Florian Beuer Nach einer kleinen Umfrage unter Kollegen auf einem implantologischen Kongress im Herbst berichteten nahezu alle Teilnehmer von vermehrten, nicht erklärbaren Implantatverlusten während der Osseointegrationsphase in diesem Jahr. Einen Zusammenhang zwischen der Knochenheilung und COVID stellte allerdings kaum jemand her. Ein chinesisches Team hat nun eine Studie im Tiermodell zur Auswirkung der Infektion auf den Knochenstoffwechsel publiziert. Die Ergebnisse lassen aufhorchen. UNIV.-PROF. DR. FLORIAN BEUER, MME Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin, Abteilung für Zahnärztliche Prothetik, Alterszahnmedizin und Funktionslehre Aßmannshauser Str. 4–6, 14197 Berlin Foto: privat Explantiertes Einzelzahnimplantat bei der Wiedereröffnung vier Monate nach Implantatinsertion Foto: Florian Beuer 10 | ZAHNMEDIZIN

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zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2254) der Infektion. Diese Ergebnisse zeigten sich auch in der Tibia und den Wirbelkörpern, sowohl im Mikro-CT als auch in den histologischen Untersuchungen. Das trabekuläre Knochenvolumen von mit SARS-CoV-2 infizierten Hamstern betrug nach 60 Tagen weniger als 50 Prozent, verglichen mit der Kontrollgruppe. Dies führten die Forscher auf vier Hauptursachen zurück: 1. SARS-CoV-2 aktiviert die Osteoklasten und damit die knochenabbauenden Prozesse. So wurde in den infizierten Hamstern eine doppelt so hohe Anzahl an Osteoklasten gefunden wie in der Kontrollgruppe. 2. SARS-CoV-2 stört die inflammatorische Mikroumgebung im Skelett ohne direkte Infektion. Das heißt, der entzündliche Knochenverlust war nicht durch unmittelbare, direkte Beteiligung des Virus im Knochengewebe verursacht. 3. Durch SARS-CoV-2 bedingte Zytokine regeln die Osteoklastengenese hoch. So fanden die Forscher einen sechsfachen Anstieg des Markers IL-1b, einen siebenfachen Anstieg von TNF-a und einen dreifachen Anstieg von IL-1RA in den Knochengeweben nach vier Tagen bei der infizierten Gruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe. 4. Eine pro-inflammatorische Kaskade sorgt für pathologische Knochenresorption. DISKUSSION Die Osseointegration dentaler Implantate mit einer nahezu 100-Prozent-Erfolgsquote wird heute absolut vorausgesetzt. Als eine der Auswirkungen des SARS-CoV-2 werden inzwischen auch muskulo-skelettale Konsequenzen diskutiert. Die im Hamstermodell beschriebenen Folgen auf multiple Knochen auch lange nach der akuten Infektion lassen nachdenklich werden und vielleicht jüngste eigene Misserfolge in einem anderen Licht erscheinen. Fraglich ist, ob sich die hier präsentierten Ergebnisse 1:1 auf den Menschen übertragen lassen. Allerdings ist das gewählte Modell ein wissenschaftlich etablierter Versuchsaufbau, da die Kinetik in etwa dem menschlichen Körper entspricht. Wie gehen wir mit dieser Information um? Als mögliche Konsequenz wäre die COVID-Anamnese sinnvoll, und zwar nicht nur die Frage, ob jemand akut erkrankt ist, sondern auch ob und wann er erkrankt war. Wir wissen heute jedoch noch nicht, ob sich der Knochen nach einer gewissen Zeit wieder regeneriert und remineralisiert. Eine Knochendichtemessung vor Implantation ist wahrscheinlich zu aufwendig, um sie flächendeckend zu empfehlen, aber für kritische Situationen in Einzelfällen vielleicht sinnvoll. Eine Verlängerung der Einheilzeit dentaler Implantate wäre in kritischen Fällen ebenfalls zu überlegen. Generell haben wir derzeit noch wenig klinische Daten und konkrete Informationen, allerdings sollten wir uns der möglichen Auswirkung von SARS-CoV-2 auf unser tägliches Tun bewusst werden. BEDEUTUNG FÜR DIE PRAXIS Für die klinische Praxis lassen sich folgende Schlussfolgerungen treffen: \ SARS-CoV-2 hat negative Auswirkungen auf die Knochendichte, vor allem auf die Trabekelstruktur der Spongiosa. \ Auch in der Postinfektionsphase waren progrediente negative Auswirkungen auf den Knochen nachweisbar. \ Bei Patienten nach einer COVIDInfektion kann es zu negativen Folgen im Rahmen der Knochenheilung nach dentaler Implantatinsertion kommen. \ Originalpublikation: Qiao W, Lau HE, Xie H, Poon VK, Chan CC, Chu H, Yuan S, Yuen TT, Chik KK, Tsang JO, Chan CC, Cai JP, Luo C, Yuen KY, Cheung KM, Chan JF, Yeung KW: SARS-CoV-2 infection induces inflammatory bone loss in golden Syrian hamsters Nat Commun. 2022 May 9;13(1):2539. doi: 10.1038/s41467–022–30195-w. AUS DER WISSENSCHAFT In dieser Rubrik berichten die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats der zm regelmäßig über interessante wissenschaftliche Studien und aktuelle Fragestellungen aus der nationalen und internationalen Forschung. Die wissenschaftliche Beirat der zm besteht aus folgenden Mitgliedern: Univ.-Prof. Dr. Elmar Hellwig, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Univ.-Prof. Dr. Dr. Søren Jepsen, Universität Bonn Univ.-Prof. Dr. Florian Beuer, Charité – Universitätsmedizin Berlin Univ.-Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer, Universitätsmedizin Mainz UMFRAGE UNERKLÄRLICHE IMPLANTATVERLUSTE? Haben Sie 2022 in Ihrer Praxis vermehrt Einheilungsstörungen oder Implantatverluste während der Osseointegrationsphase festgestellt? Oder gab es keine Probleme? Schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen unter „Implantatverluste durch SARSCoV-2?“ an kontakt@zm-online.de. 12 | ZAHNMEDIZIN

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zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2256) AUSWIRKUNGEN VON CORONA AUF DIE PRÄVENTION Wir brauchen mehr Dental Public Health Dietmar Oesterreich Die COVID-19-Pandemie hat erhebliche Auswirkungen auf die (Mund-)Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gezeigt. Was in der Versorgung nottut, sind verbesserte Präventionsstrukturen und ein konsequenter Setting-Ansatz. Wichtig für die Zukunft sind nicht nur individuelle Krankheitsstrategien, sondern die Stärkung der bevölkerungsbezogenen Perspektive – und damit des Bereichs von Dental Public Health. Hier herrscht in Deutschland Nachholbedarf. Auch wenn gegenwärtig welt- und energiepolitische Herausforderungen in der Öffentlichkeit im Vordergrund stehen – für Zahnärzte gilt es nach fast drei Jahren Corona die Auswirkungen der Pandemie auf die Mundgesundheit und das Gesundheitssystem in den Blick zu nehmen. Nicht erst nach den jüngsten Eingeständnissen der Politik ist deutlich geworden, dass zahlreiche Probleme in diesen Bereichen (auch) die Folgen der politischen Entscheidungen sind. Kinder und Jugendliche waren von der Pandemie besonders betroffen – vor allem durch die Schließungen und die erheblichen Einschränkungen in Kindertagesstätten und Schulen. Neben den Folgen für die individuelle Gesundheit und Mundgesundheit sind – parallel dazu – auch die Auswirkungen auf die Präventionsstrukturen erheblich. VOR DER PANDEMIE WAR VIELES GUT Der Blick zurück auf die Entwicklung der Prophylaxekonzepte in Deutschland: Bekanntlich haben sich die präventiven Aktivitäten in der Zahnheilkunde mit Einführung der Gruppenprophylaxe im Jahr 1989 und der Individualprophylaxe (einschließlich der Fissurenversiegelung im Jahr 1993) sehr erfolgreich auf die Verbesserung der Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen ausgewirkt. Gab es anfänglich noch intensive Auseinandersetzungen, welche Maßnahmen effektiver und effizienter sind, so wuchs mit der Zunahme der Erfolge eine sinnvolle Synergie beider Präventionsebenen. Gleichzeitig nahm auf Bevölkerungsebene der Gebrauch von fluoridhaltigen Zahnpasten deutlich zu und die Dental Awareness entwickelte sich erfreulich positiv. Im Ergebnis hat sich die Mundgesundheit in allen Altersgruppen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, signifikant verbessert. Über 80 Prozent der 12-jährigen Jugendlichen sind heute kariesfrei [IDZ, 2016]. Leider ging diese Entwicklung im bleibenden Gebiss nicht mit einem Rückgang der Karies im Milchgebiss einher. Letztmalig im Jahr 2016 ermittelt, stagniert heute der Kariesrückgang im Milchgebiss [DAJ, 2017]. Diese bereits 2009 festgestellte Entwicklung führte dazu, dass die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege e. V. (DAJ) 2012 damit begann, einen besonderen Fokus in der Gruppenprophylaxe auf die Altersgruppe 0 bis 6 Jahre zu legen. Im Jahr 2016 publizierte die DAJ die erweiterten Empfehlungen „Frühkindliche Karies: Zentrale Inhalte der Gruppenprophylaxe für unter dreijährige Kinder“ [DAJ, 2016]. Dabei wurde die interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen Erzieherinnen und Erziehern und dem Gruppenprophylaxepersonal als notwendig herausgearbeitet. 2018 haben die Teilnehmer eines Symposiums zur Auswertung der epidemiologischen DAJ-Begleituntersuchung zur Gruppenprophylaxe 2016 festgestellt, dass die tägliche Mundhygiene in den Kitas von zentraler Bedeutung ist [DAJ, 2018]. Auf Grundlage kindheitswissenschaftlicher Erkenntnisse und der Rolle von Bezugspersonen in der Lebensphase bis zu drei Jahren hatten sie als zukünftige Richtschnur für die Maßnahmen der Gruppenprophylaxe das Motto „von der Gruppenprophylaxe in der Kita – zur Gruppenprophylaxe mit der Kita“ postuliert. Auch der Gesetzgeber wurde aktiv. Gesetzgeberische Maßnahmen für die zahnärztlichen Praxen konzentrierten sich – auf Basis eines gemeinsam von Wissenschaft, Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung (KZBV) und Bundeszahnärztekammer (BZÄK) getragenen Konzepts zur zahnmedizinischen Prävention bei Kleinkindern („Frühkindliche Karies vermeiden“) – auf die Einführung von Früherkennungsuntersuchungen bei den 0- bis 3-Jährigen. Diese sind seit dem 1. Juli 2019 in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) etabliert [KZBV/BZÄK, 2014; BAnzAT, 2019]. Auch hier wurde erkannt, dass eine verPROF. DR. DIETMAR OESTERREICH Langjähriger Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), Präsident der Zahnärztekammer Mecklenburg-Vorpommern und Vorsitzender Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege (DAJ), Honorarprofessor für Orale Prävention und Versorgungsforschung an der Universität Greifswald Foto: axentis.de 14 | TITEL

zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2257) besserte interdisziplinäre Zusammenarbeit – hier insbesondere mit den Pädiatern – dringend notwendig ist. Zwischenzeitlich wurden 2021 im Rahmen des bundesweiten Netzwerks „Gesund ins Leben“ Handlungsempfehlungen zur Nutzung von Fluoriden im Säuglingsund frühen Kindesalter herausgegeben [Berg et al., 2021]. Damit liegt ein zwischen Pädiatern und Zahnmedizinern ausgehandelter Kompromiss für die Anwendung von Fluoriden in dieser Lebensphase vor. Insgesamt kann man feststellen, dass auf Grundlage der hohen Kariesprävalenzen im Milchgebiss zahlreiche Initiativen in Deutschland entwickelt wurden, die auf die Stärkung von Verhältnisund Verhaltensprävention sowie auf eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit setzen. ... DANN KAM DIE CORONA-PANDEMIE Inzwischen liegen zahlreiche nationale und internationale Studien sowie fachliche Stellungnahmen vor, die eindrucksvoll die gesundheitlichen und psychosomatischen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche verdeutlichen. Benannt werden ein Anstieg von Adipositas, eine verschlechterte Motorik und ein verschlechtertes Sprachvermögen sowie ein ungesundes Ernährungsverhalten, ein Anstieg psychischer Störungen, eine deutliche Zunahme des Medienkonsums und insgesamt eine verstärkte Polarisation von Erkrankungsrisiken [Kaman et al., 2021; COSMO-Studie, 2020; Langmeyer et al., 2020; Bantel et al., 2021; FDI; Stellungnahme des Expertenrats, 2022]. Dabei wurden zunächst die aufgezeigten primären Krankheitslasten untersucht. Auf Grundlage der Verhaltensveränderungen und der gestiegenen Krankheitslasten, die unmittelbar Einfluss auf die Mundgesundheit besitzen, muss ein Anstieg zahnmedizinischer Erkrankungen als sekundäre Krankheitslast befürchtet werden. Einige Experten konnten bei ihren Recherchen über die Auswirkungen der Pandemie auf die Mundgesundheit feststellen, dass während der Lockdowns die Individualprophylaxe reduziert wurde und es zum Wegfall von gruppenprophylaktischen Maßnahmen in Kindergärten, Schulen und Betreuungseinrichtungen kam [Pech und Lang, 2022]. Vermutet wird, dass heute infolge der Pandemie vermehrte Präventionsmaßnahmen notwendig sind und die Wahrscheinlichkeit steigt, eine zahnärztliche Behandlung durchführen zu müssen. Die Experten fordern folgerichtig eine Adaption der bestehenden Prophylaxekonzepte für zukünftige Pandemien. Die DAJ-Dokumentationen über Maßnahmen der Gruppenprophylaxe zeigen, dass noch im Jahr 2018/2019 die gruppenprophylaktische Betreuungsquote in den Kitas bei 74,81 Prozent lag. Im Jahr 2019/2020 sank diese Quote auf 45,37 Prozent und im Jahr 2020/2021 sogar auf 23,21 Prozent [DAJ, 2019]. Ähnliche Negativentwicklungen konnten im Bereich der Grundschulen und der Förderschulen wie auch der Klassen 5 bis 10 festgestellt werden. Zusätzlich führte die Abordnung von Personal des Öffentlichen Gesundheitsdienstes bei der Pandemiesteuerung zu Personalengpässen in der Gruppenprophylaxe. DIE GRUPPENPROPHYLAXE KAM VÖLLIG ZUM ERLIEGEN Eine Querschnittsstudie weist auf unmittelbare persönliche Auswirkungen auf das Gruppenprophylaxepersonal hin [Schulz-Weidner et al., 2021]. Während der Pandemie kamen über einen langen Zeitraum hinweg Gruppenprophylaxemaßnahmen und zahnärztliche Untersuchungen in den Kindereinrichtungen vollständig zum Erliegen. Corona hat alles verändert, normal war plötzlich anders. Was für Schäden sind geblieben? Wie ist eigentlich die Mundgesundheit durch die Pandemie gekommen? Foto: ShunTerra – stock.adobe.com TITEL | 15

zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2258) Ferner sank auch die Anzahl der in der Gruppenprophylaxe engagierten Teams aus den zahnärztlichen Praxen um etwa ein Drittel. Gleichzeitig kam es in den Kitas dazu, dass die bereits eingeführten täglichen Mundhygienemaßnahmen – sowohl aufgrund einer befürchteten Infektionsverbreitung als auch wegen einer erheblichen Belastung des Erzieherpersonals – nicht mehr durchgeführt wurden. Und der durch die Pandemie forcierte Fachkräftemangel in den Kitas führt aktuell immer noch dazu, dass die täglichen Mundhygienemaßnahmen nicht wieder aufgenommen werden. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Durchführung von Mundhygiene im Rahmen der Gesundheitsförderung gibt es nur in wenigen Bundesländern. Über Maßnahmen und Aktivitäten der Gruppenprophylaxeteams während des Lockdowns in der Pandemie wurde bereits berichtet [DAJ, 2022]. Flankiert und gestützt werden diese (deutschen) Erkenntnisse durch die internationalen Entwicklungen: So hat die Weltgesundheitsorganisation WHO hat im Jahr 2022 erstmals eine „Globale Strategie zur Mundgesundheit (Global Strategy on Oral Health) verabschiedet. Ziel ist die Entwicklung von nationalen Aktionsplänen zur Verbesserung der Mundgesundheit. Die Mitgliedstaaten sind aufgerufen, Konzepte, Strategien und Projekte für die Mundgesundheit zu erarbeiten und Präventionsmaßnahmen auch in den Lebenswelten der Menschen zu berücksichtigen [WHO, 2021]. Auch die Konzepte des Weltzahnärzteverbands FDI (Vision 2030) gehen in die gleiche Richtung. Sie zeigen auf, dass sowohl die Verhaltens- als auch die Verhältnisprävention einer stärkeren Berücksichtigung bedürfen [FDI]. Experten kritisieren die jahrzehntelange separate Betrachtung von Mundgesundheit und allgemeiner Gesundheit auf wissenschaftlicher, klinischer und politischer Ebene. Das Resultat ist die politisch geringe Aufmerksamkeit für die globale Mundgesundheit. So herrscht unter anderem in der zahnmedizinischen Forschung und im Bereich Dental Public Health erheblicher Nachholbedarf [Benzian und Listl, 2021]. Auch die Bundeszahnärztekammer hat sich im Jahr 2019 mit einer im britischen Fachjournal „The Lancet“ erschienenen Artikelreihe zur globalen Mundgesundheit mit der Problematik auseinandergesetzt [Oesterreich, 2019]. WIE DIE MUNDGESUNDHEIT VERBESSERT WERDEN KANN \ Die im Jahr 2021 publizierten Mundgesundheitsziele für Deutschland weisen verhältnispräventive Zielsetzungen unter Einbezug der Gruppenprophylaxe auf [Ziller et al., 2021]. Der gemeinsame Risikofaktorenansatz (Common Risk Factor Approach) zeigt zahlreiche Schnittstellen für gesundheitsförderliche und präventive Botschaften in Interaktion mit anderen Gesundheitsorganisationen und Gesundheitsberufen auf [Heilmann et al., 2017]. Sowohl internationale Entwicklungen und nationale Initiativen als auch Forschungserkenntnisse geben also zahlreiche Hinweise darauf, dass eine Verstärkung von Public-HealthMaßnahmen und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zur Verbesserung der Mundgesundheit notwendig sind. \ Die Pandemie hat eindrücklich offenbart, welche Bedeutung Public-Health-Maßnahmen für die Gesundheit der Bevölkerung einnehmen. Leider sind die dafür notwendigen Strukturen nicht adäquat aufgestellt. Zwischenzeitlich hat aber die Gesundheitspolitik mit dem „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD)“ reagiert. Der Pakt sieht neben Personal- und Ausrüstungsmaßnahmen auch die Verbesserung vorhandener Datengrundlagen mit Mitteln der Digitalisierung vor. Das sind auch für die Zahnmedizin in Deutschland gute Ansätze, um bisherige Desiderate aufzuarbeiten. \ Die DAJ und der Bundesverband der Zahnärztinnen und Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BZÖG) haben im Kontext mit dem Pakt ÖGD eine Unterstützung für die qualitative Verbesserung der Mundgesundheitsberichtserstattung eingefordert. Sie argumentieren, dass eine flächendeckende und hochwertige Erfassung der Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen die dringend benötigten Datengrundlagen zur Ausgestaltung der Gesundheitsförderung liefere. Das diene auch einer zeitnahen Erfassung von sekundären Krankheitslasten infolge der Pandemie. Es gilt, die Gruppenprophylaxe zukunftsfest aufzustellen. Foto: cherryandbees – stock.adobe.com 16 | TITEL

\ 2018 führte die DAJ ein Symposium durch. Die Teilnehmer stellten dort auf Grundlage von Erkenntnissen der Public Health Forschung einen Lebensweltenansatz (Setting) in der Gruppenprophylaxe als wichtigen Ansatz zur Verhaltensänderung heraus – auch wenn dieser mit den Methoden der evidenzbasierten Medizin nicht ohne Weiteres zu evaluieren sei. \ Gegenwärtig diskutieren die Gremien der DAJ intensiv über die Ausrichtung der epidemiologischen Begleituntersuchung zur Gruppenprophylaxe. Um die Effekte der Gruppenprophylaxe besser einschätzen zu können, müssen Konzepte der Wirkungsorientierung zur Anwendung kommen.. Hierzu bedürfe es neben einer verbesserten Dokumentation und Erfassung der Maßnahmen der Gruppenprophylaxe auch einer Erfassung von Wirkparametern im Setting. Eine Aufgabenstellung, der sich die DAJ verstärkt zuwenden muss, um die Rolle und Bedeutung der Gruppenprophylaxe auch zukünftig zu sichern. \ Bereits 2007 wurde im Rahmen einer Bestandsaufnahme zu Dental Public Health festgestellt, dass es – anknüpfend an internationale Entwicklungen – überfällig ist, auch in Deutschlands Hochschullandschaft endlich Lehrstühle für Dental Public Health zu etablieren [Ziller und Oesterreich, 2007]. Deutschland besitzt durch die Gruppenprophylaxe zwar seit Jahren erfolgreiche Strategien. Diese werden jedoch durch einen fehlenden gesundheitswissenschaftlichen Überbau im Rahmen von Dental Public Health nur eingeschränkt wahrgenommen. Folglich findet die Mundgesundheit kaum Beachtung, wenn es zum Beispiel um bevölkerungsweite Auswirkungen etwa von Pandemien geht. \ Nicht zuletzt ist dies auch eine weitere Ursache, warum die Zahnmedizin in der Corona-Pandemie keine ausreichende Beachtung erfuhr. Es ist somit zukünftig eine Aufgabe der Professionspolitik wie auch der zahnmedizinischen Wissenschaft, Initiativen zur Stärkung von Dental Public Health in Deutschland zu entwickeln. Es ist an der Zeit, neben dem individuellen Ansatz für Gesundheit und Krankheit, die bevölkerungsbezogene und systemische Perspektive auch in der Zahnmedizin in Deutschland weiter zu stärken. Nicht zuletzt wäre dazu auch ein stärkerer Einsatz der zahnärztlichen Praxen im Rahmen der Gruppenprophylaxe ein wichtiges Zeichen. \ ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2259) Zahnarztinformationssystem ('" #%$!& E)5E25-3L6738B>48N6CC8I,% ,1 *$)'$0 12' (!1 "&$0'3 -+,"2)/ 0$%!+#0&%0!. O$.". ($+.$@$ %&1#; $+&/#=$& ?<1K *'"(*#"0G$-'G$&. B$&& 9+. G$@ %$#+.0#)-&/!,E)5 *B>4F AM&&$& I+$ D?/&?@". !"(H D?/&:@".+& ;$+&J (+$ I+$ $; (#==$&H TITEL | 17

zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2260) PATIENTENBEWERTUNGEN Was man aus 2-Sterne-Bewertungen lernen kann Jeder kann auf Google nahezu ungefiltert seine Meinung zu Ärzten abgeben. Das Meyer-Hentschel Institut hat über 1.000 Bewertungen für Haus- und Facharztpraxen analysiert und daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet. Denn was Patienten häufig als gut oder als verbesserungswürdig bewerten, kann Praxen zeigen, wo sie richtig stehen und wo sie sich noch entwickeln können. Es geht vor allem um Freundlichkeit, Respekt und den Faktor Zeit, wenn Patienten sich lobend oder kritisch äußern – und da dies bekanntermaßen im Auge des Betrachters liegt, ist es genau deshalb auch steuerbar. Was noch direkt auffällt, wenn man sich die repräsentative Analyse des Instituts anschaut: Mit 64 Prozent bewerten die meisten Patienten den Arztbesuch mit vier bis fünf von fünf möglichen Sternen als zufriedenstellend bis sehr zufriedenstellend. Oft geben treue Patienten oder jene, die einmal oder mehrmals in ihren Erwartungen übertroffen wurden, solch ein gutes Feedback. Genau diese Rezensenten empfehlen die Praxen dann auch weiter. Bewertungen im Mittelfeld sind viel geringer, sprich drei Sterne werden selten vergeben. In dieser Range befinden sich eher anspruchsvolle Patienten, die sich die Mühe machen, differenzierter zu urteilen. Diese mittelprächtigen Bewertungen enthalten aber oft wertvolle Anregungen für die Praxen. Schlechte Bewertungen mit einem oder zwei Sternen vergeben mit 36 Prozent deutlich weniger Patienten als gute. Diese unterscheiden sich nicht nur inhaltlich, sondern haben auch ein charakteristisches Merkmal, erkannte das Institut: Meist beziehen sich die Patienten auf ein singuläres Ereignis in der Praxis, das ihre große Unzufriedenheit ausgelöst hat – etwa wenn sie nicht als Notfall eingestuft und erneut einbestellt wurden, ihre Behandlungs- oder Rezeptwünsche nicht erfüllt wurden oder eben die Wartezeit als unverhältnismäßig lang empfunden wurde. Der Ton der 1-Stern-Bewertungen ist oft emotional. Zudem enthalten diese Bewertungen viel häufiger Wörter, die nicht zur Schriftsprache gehören. Das betrifft auch die mitunter unterdurchschnittliche Ausdrucksfähigkeit mit geringeren Deutsch- beziehungsweise Rechtschreibkenntnissen. WENN DIE LEISTUNG STIMMT, WIRD VIELES VERZIEHEN Laut Analyse der schriftlichen Bewertungen auf Google sind die meisten Patienten aber fair. Sie akzeptierten beispielsweise eine längere Wartezeit, wenn der Rest stimmte, oder hatten Verständnis für die gestresste MFA, weil sie erkannten, dass deren Job nicht einfach ist. Hatten Patienten ein akutes gesundheitliches Problem, wertschätzten sie kompetente Hilfe mehr als die kurze Wartezeit oder die Freundlichkeit des Personals. Das war besonders bei Bewertungen von Unfallchirurgen und Orthopäden der Fall. Die beiden meistgenannten Gründe für gute Bewertungen beruhen auf emotionalen Kriterien: 50,6 Prozent der Patienten äußerten sich lobend, wenn sie die Ärztin oder den Arzt als freundlich, einfühlsam und verständnisvoll erlebt haben. 49,9 Prozent bewerteten das Praxisteam als nett und hilfsbereit. Auf Platz 3 der Zufriedenheitskriterien wurden von 46,5 Prozent die Kompetenz, die Gründlichkeit und das erlebte Engagement des konsultierten Mediziners erwähnt. Für 21,8 Prozent der Bewertenden war positiv erwähnenswert, dass der Arzt sich genügend Zeit nahm. Hinsichtlich der Unzufriedenheit (Grafik) ist eines der am häufigsten genannten Argumente, dass die Praxis telefonisch schlecht erreichbar ist; 20,7 Prozent bewerteten das als schlecht. In den Kommentaren hieß „Man kann die Bedeutung des Praxisteams für die Gesamtwahrnehmung einer Praxis kaum überschätzen.“ Gundolf Meyer-Hentschel, Inhaber des Meyer-Hentschel Instituts Foto: Alex – stock.adobe.com 18 | PRAXIS

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zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2262) es dazu „stundenlang besetzt“, „ständig Warteschleife“ oder „nur Anrufbeantworter“. Hier könnte ein digitaler Telefonassistent helfen oder auch ein Online-Terminmanagement-System, schlägt das Institut als Verbesserung vor. Dass das Praxisteam unfreundlich und respektlos war, empfanden 17,6 Prozent der Patienten als abturnend. Dazu zählt etwa, dass das Personal wenig diskret arbeitet. Als Beispiel wurde genannt: Die Mitarbeitenden „sprechen an der Rezeption im Beisein anderer respektlos über Patienten, die gerade die Praxis verlassen haben“. Weiter bewerteten 10,5 Prozent eine vermeintliche Fehldiagnose beziehungsweise Fehlbehandlung als schlecht, waren also mit der fachlichen Kompetenz nicht zufrieden. Manche Patienten versuchten, ihre Bewertungen zu „belegen“, indem sie die Mitglieder einer Gemeinschaftspraxis miteinander verglichen. Lange Wartezeiten trotz Termin nannten 9,4 Prozent; hier erlebten einige bereits 30 Minuten als zu lang. JE LÄNGER MAN WARTET, DESTO MEHR WIRD ERWARTET In den Tipps des Meyer-Hentschel Instituts lässt sich lesen: Je länger die empfundene Wartezeit, desto höher ist die Erwartung an die Zeit, die dem Patienten anschießend zuteil wird. Hier könnte ein optimiertes Bestellmanagement mit keinen oder eben nur sehr kurzen Wartezeiten zur Verbesserung beitragen. Denn umgekehrt gilt auch: Je kürzer die Wartezeit, desto länger ist das subjektive Erleben der Dauer des Arztkontakts beziehungsweise die Akzeptanz einer kurzen Konsultation. Bei dem Aspekt könnten sich Behandler und Team noch einmal bewusst machen: Je gestresster sie wirken, desto eher fühlt sich ein Patient nicht willkommen oder vermisst eine aus seiner Sicht ausreichende Zuwendung. Verläuft der Praxisbesuch hingehen ruhig, entspannt und die Behandlung möglichst störungsfrei, können aus fünf Minuten Konsultation gefühlt zehn werden und so den Patienten entspannen. Eine weitere Erkenntnis: Beschäftigt sich das Praxisteam herzlich und ausgiebig mit dem Patienten, laden dessen „emotionale Batterien“ mehr auf und er betritt positiver gestimmt das Behandlungszimmer. Dies liest sich in den Bewertungen hinterher zum Beispiel so: „tolle, entspannte Atmosphäre“ oder „super gemütliche Praxis“. Man kann also auch mit seiner emotionalen Praxisausstattung glänzen. Insgesamt gab es für Facharztpraxen mehr schlechte Bewertungen (39 Prozent) als für Hausärzte (27 Prozent). Die Gründe dafür liegen aber nicht in der ärztlichen Qualität, sondern bezogen sich laut Analyse auf die Praxisorganisation oder das Personal. So bemängelten die Patienten bei Facharztpraxen vorrangig das unfreundliche Personal. Hier tauchte auch die vermeintliche „Igel-Abzocke“ als Grund auf. NUTZEN SIE DIE DATEN ALS VERBESSERUNGSVORSCHLAG Patientenbewertungen haben eine enorme Bedeutung, sind sie doch auf Google sehr prominent platziert und zudem bei der Suche automatisch der Adresse zugeordnet, etwa bei GoogleMaps. Im Unterschied zu anderen Arztbewertungsportalen können ihre Patienten ohne Kriterien frei schreiben, was sie meinen. Neben der (un-) erfreulichen Sterne-Vergabe sind die Kommentare gleichzeitig eine große Datensammlung, aus der herausanalysiert werden kann, was Patienten schätzen und was nicht. Ob gut, schlecht oder mittelmäßig – wer die Bewertungen auswertet, kann einiges über das subjektive Erleben seiner Patienten erfahren. LL ZUR METHODIK Das Meyer-Hentschel Institut aus Saarbrücken/Zürich hat im Juli 2022 eine systematische Analyse von Praxisbewertungen auf Google durchgeführt, dabei benoteten 1.093 Patienten 100 Haus- und Facharztpraxen im gesamten Bundesgebiet. Um die Aussagekraft zu festigen, wurden diese Beurteilungen mit anderen Studien und deren Datensätzen verglichen – etwa dem „Health Care Barometer 2022“ und der Arztbewertungsanalyse der Bewertungsplattform jameda. Fazit: Die Ergebnisse ähneln sich. Zudem bestätigt der Vergleich, dass Google-Bewertungen kein geschöntes Bild der Realität wiedergeben. Meyer-Hentschel Online World ist spezialisiert auf Webseiten für Freie Berufe, insbesondere Arztpraxen. Über eine tolle Bewertung freut man sich – aber auch die weniger guten können ihren Nutzen haben. Wer richtig liest, kann daraus Verbesserungen ableiten. Quelle: Meyer-Hentschel-Institut 20 | PRAXIS

Aus der Praxis für die Praxis Zahlreiche Fortbildungen zu interessanten Themen Geistlich Biomaterials Vertriebsgesellschaft mbH Schöckstraße4| 76534Baden-Baden Tel. 07223 9624-0| Fax 07223 9624-10 info@geistlich.de | www.geistlich.de Bitte senden Sie mir die Broschüre zu: Produktkatalog Übersicht Geistlich Fortbildungen #$ "!%"&%"'"" Praxisstempel Link zur Veranstaltung Abendveranstaltungen Live-OP Kurse Workshops Hands-On Kurse WorkshopDay

zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2264) EIN INTERDISZIPLINÄRER FALL Penetrierende Schussverletzung am Hals durch Armbrustbolzen Christian Gross, Tanja Hildenbrand, Anna Hein, Thea Reuter, Niklas Deeg, Philipp Poxleitner Schussverletzungen am Hals werden meistens durch Feuerwaffen-Projektile verursacht – dass für eine Schussverletzung ein per Armbrust abgeschossener Bolzen verantwortlich ist, kommt selten vor. Der folgende Fallbericht schildert die interdisziplinäre Notfallversorgung einer Patientin, die von gleich zwei Armbrustbolzen getroffen wurde. Eine 53-jährige Patientin wurde mit zwei, die zervikalen Weichteile vollständig penetrierenden Armbrustbolzen luftgebunden in den Schockraum der universitären Notaufnahme des Universitätsklinikums Freiburg eingeliefert. Die Frau war im privaten Umfeld mit einer Armbrust angegriffen worden. Im Schockraum war die Patientin wach, zu allen Qualitäten orientiert und kardiorespiratorisch stabil. Das Sprechen war durch die Fixierung des Unterkiefers an die zervikalen Weichteile durch einen der beiden Bolzen eingeschränkt. Es bestand keine aktive Blutung. Das Kopf/Hals-CT mit Kontrastmittel zeigte einen kranialen Bolzen mit Eintritt in die rechte Gl. parotidea, Penetration des rechten Ramus mandibulae und Austritt kaudal der linken Mandibula sowie einen kaudalen Bolzen mit Eintritt von anteromedial rechts auf Höhe des Larynx und Austritt im lateralen Halsdreieck links mit Kompression der linken V. jugularis externa. Zudem waren eine Kompression der V. jugularis interna links und ein Weichteilemphysem im Bereich des linken Larynx sichtbar (Abbildung 1). Radiologisch bestand kein Anhalt für eine Verletzung der Trachea oder für einen Pneumothorax. Die begleitende CT-Angiografie erbrachte keinen Hinweis auf größere traumatische Verletzungen der zervikalen Gefäße. Abb. 1: CT Hals-Thorax mit Kontrastmittel: a: 3-D-Rekonstruktion, Ansicht von frontal mit den zwei Armbrustbolzen: Im CT sind lediglich die metallischen Bolzenspitzen zu sehen. Der Schaft der Bolzen besteht aus Karbonfasern und ist nicht radioopak. Der kraniale Bolzen perforierte die rechte Gl. parotidea, den rechten Ramus mandibulae sowie den Mundboden und trat mit der Spitze kaudal der linken Mandibula aus. Der kaudale Bolzen mit Eintritt von anteromedial rechts auf Höhe des Larynx mit Kontakt zur V. jugularis anterior rechts, ventral des Schildknorpels links am Hinterrand des M. sternocleidomastoideus mit engem Kontakt und Kompression der V. jugularis interna links und Austritt im lateralen Halsdreieck links mit engem Kontakt und Kompression der V. jugularis externa. b: 3-D-Rekonstruktion, Ansicht von rechts: Der kraniale Bolzen perforierte den rechten Ramus mandibulae. c: axial: kaudaler Armbrustbolzen, dem Larynx und der V. jugularis interna unmittelbar aufliegend mit begleitendem Weichteilemphysem Quellen: DeepUnity Diagnostics (Dedalus HealthCare), Universitätsklinikum Freiburg a b c 22 | ZAHNMEDIZIN

Nach der initialen Schockraumdiagnostik erfolgten in interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie und der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde mit Stand-by der Kolleginnen und Kollegen der Gefäßchirurgie die endotracheale, fiberoptische Intubation und die notfallmäßige operative Versorgung (Abbildung 2). Über einen zervikalen Zugang wurde zuerst der kaudale Bolzen vollständig dargestellt und entfernt, dabei eine Verletzung der Trachea ausgeschlossen. Nach Erweiterung der Schnittführung in Richtung des rechten Kieferwinkels wurde der kraniale Bolzen präpariert. Aufgrund einer Penetration der Gl. submandibularis rechts erfolgte die Entfernung der Drüse sowie eine Ligatur der rechten A. facialis und der rechten V. facialis. Eine Penetration der V. jugularis externa konnte dargestellt und das Gefäß ligiert werden. Nach vollständiger Darstellung und Entfernung des kranialen Bolzens wurde die Kieferwinkelfraktur rechts reponiert und mittels zwei 3-LochPlatten osteosynthetisch versorgt. Nach mehrschichtigem Wundverschluss und Einbringen von Saugdrainagen erfolgte die Verlegung auf die anästhesiologische Intensivstation. Bei Ausbleiben von Komplikationen wurde die Patientin am zweiten postoperativen Tag auf die Mund-/Kiefer-/ Gesichtschirurgische Normalstation verlegt. Bei gutem Heilungsverlauf erfolgte am fünften postoperativen Tag die Entlassung. Bis auf leichte postoperative muskuläre Verspannungen im Operationsgebiet kam es ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. DR. MED. DR. MED. DENT. CHRISTIAN GROSS Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – Plastische Operationen, Universitätsklinikum Freiburg Hugstetter Str. 55, 79106 Freiburg christian.gross@uniklinik-freiburg.de Foto: Uniklinik Freiburg ZAHNMEDIZIN | 23

zm112, Nr. 23-24, 1.12.2022, (2266) zu keinen körperlich-funktionellen Einschränkungen. DISKUSSION Eine Armbrust ist eine Fernwaffe mit einem Bogensystem, aus dem Bolzen, Pfeile oder Kugeln abgeschossen werden können, indem ein Pistolen-ähnlicher Abzug betätigt wird. Hinsichtlich der Konfiguration der Armbrustbolzen wird zwischen Jagd- und Sport-Bolzen unterschieden. Während Jagdbolzen unterschiedlich konfigurierte, scharfe Breitkopfspitzen aufweisen, die eine letale Blutung beim getroffenen Wild hervorrufen sollen, haben Sportbolzen in der Regel konische Feldspitzen – wie auch im vorliegenden Fall. Der Schaft moderner Armbrustbolzen besteht aus gewichtsparenden Kohlefasern und/oder Kunststoffen (radioluzenter Schaft und radioopake, metallische Spitze im CT – Abbildung 1) [Nowicki et al., 2018; Suematsu et al., 2022]. Epidemiologie und Traumamechanismus Schussverletzungen im Halsbereich wurden in der Literatur häufiger beschrieben, bisher jedoch lediglich fünf Fälle von penetrierenden Verletzungen im Halsbereich durch Armbrustbolzen [Suematsu et al., 2022]. Die Überlebensrate in diesen Kasuistiken lag bei 80 Prozent – trotz direktem Kontakt der Bolzen mit Halsgefäßen in fast allen Fällen. Die niedrige Letalität ist auf das typische Verletzungsmuster zurückzuführen. In der Regel erfolgen die Gewebeschäden durch eine direkte Gewebedurchdringung und durch Schnitte der konischen Bolzenspitze, die eine runde, glatt begrenzte Eintritts- und Austrittswunde hervorruft. Während der Penetration des Gewebes entsteht aufgrund der geringen kinetischen Energie – anders als bei Schusswunden zum Beispiel durch Pistolenprojektile – keine Kavitation im Schusskanal. Ausgeprägte Blutungen sind untypisch, da der Bolzen gegebenenfalls verletzte Gefäße komprimiert und eine Tamponade entsteht. Dieses Verletzungsmuster gilt nicht für Jagdbolzen mit scharfen Breitkopfspitzen, die invasivere Weichteilschäden und Blutungen verursachen können [Grellner et al., 2004; Karger et al., 1998; Suematsu et al., 2022]. Einteilung zervikaler Verletzungen Die Einteilung von Verletzungen des Halses, die circa fünf bis zehn Prozent aller Traumafälle ausmachen und mit einer Letalität von bis zu zehn Prozent PD DR. MED. TANJA HILDENBRAND Klinik für Hals-NasenOhrenheilkunde, Universitätsklinikum Freiburg Killianstr. 5, 79106 Freiburg Foto: Uniklinik Freiburg ANNA HEIN Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – Plastische Operationen, Universitätsklinikum Freiburg Hugstetter Str. 55, 79106 Freiburg Foto: Uniklinik Freiburg Abb. 2: Operationssitus: a: nach fiberoptischer Intubation, b: nach Darstellung des Schusskanals des kaudalen Bolzens kurz vor dem Entfernen des Bolzens, c: Ansicht von rechts: Zustand nach Resektion der Gl. submandibularis rechts, Unterbinden der A. und V. facialis rechts und Darstellung des Schusskanals des kranialen Bolzens kurz vor Entfernen des Bolzens Fotos: Universitätsklinikum Freiburg a b c 24 | ZAHNMEDIZIN

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